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Papier und Primärquellen: Archive als Herberge von Frauengeschichte

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von Anne Niezgodka

Silvia Bovenschen schreibt in der Imaginierten Weiblichkeit: „Auf der Suche nach dem geschichtlichen Einfluss der Frauen läßt sich an den historischen Dokumenten vor allem die Geschichte eines Verschweigens, einer Aussparung, einer Absenz studieren.“ Feministische Forschungen haben deswegen ja einerseits konventionelle (sprich: männlich-dominierte) Wissenschaften, Geschichtsschreibungen oder auch Künste durchforstet, um nach den Leerstellen zu suchen, um aus dem Nicht-Gesagten eine Frauengeschichte zu rekonstruieren. Der andere Weg ist mindestens ebenso archäologisch und detektivisch: Nämlich nach denjenigen Dokumenten und Spuren –und das heisst ja immer auch nach Frauenleben– zu graben, die jahre-, jahrzehnte-, jahrhundertelang bewusst unerwähnt geblieben sind. So können wir heute auf ganze Bibliotheken von Aufarbeitungen „verschwiegener“* Frauengeschichte zurückgreifen. Es gibt etablierte feministische Wissenschaften, Frauenbuchläden, -museen, -geschichtsvereine und nicht zuletzt Engagierte aus sämtlichen politischen und kulturellen Spektren, die auf ihr Recht des Gehört- und Ernstgenommen-Werdens pochen. Trotz dieser immensen Fortschritte, trotz formeller Gleichberechtigung oder vielleicht sogar angesichts der äußerlichen Emanzipation, sind weiterhin massive Ungleichheiten offenbar. Das bedeutet, dass lang nicht alles erkämpft ist, dass noch viele Geschichten schlummern und erzählt werden müssen.

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Foto: Anne Niezgodka

Archive als feministisches Gedächtnis

Herbergen dieser Geschichten sind Archive, vor allem feministische Archive und Frauen- und Lesbenarchive. In diesen sind neben Publikationen wie Zeitschriften oder Broschüren einzigartige Primärquellen beheimatet. Die „erste“ Frauenbewegung ist aufgrund der Kollateralschäden der Kriege wesentlich dünner dokumentiert. Zwar hatten Frauen wie Helene Stöcker eigens Sammlungen angelegt, durch Flucht oder die gezielte Vernichtung des Materials durch die Nazis, waren die Sammlungen jedoch unwiederbringlich verloren. Für die zweite Welle nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. ab der Studierendenrevolte der späten 1960er Jahre sieht es etwas besser aus: In dieser Zeit gründeten sich neben, aber auch im Zuge von Frauenprojekten feministische Archive in Deutschland. Als erstes kann das Spinnboden Lesbenarchiv in Berlin genannt werden, das 1973 aufgebaut wurde und noch heute existiert. Es folgten etwa: 1977 das Frauenarchiv Dortmund, 1978 das Frauenforschungs-, -bildungs- und –informationszentrum (FFBIZ) in Berlin und die Frauenbibliothek Leihse (heute Lieselle an der Ruhr-Uni Bochum) oder 1979 das Archiv Frau und Musik in Kassel (heute in Frankfurt am Main). Die Archive hatten und haben ganz verschiedene Sammelschwerpunkte: „Keine andere soziale Bewegung verfügt über ein solch breites Spektrum von Archiven“ (Conny Wenzel). Das 1984 gegründete Archiv der deutschen Frauenbewegung etwa ist auf die „alte“ Frauenbewegung spezialisiert. Die Archive kamen untereinander schnell in Kontakt und treffen sich seit 1983 regelmäßig. 1994 gründeten sie den i.d.a.-Dachverband, in dem inzwischen 39 deutschsprachige Einrichtungen organisiert sind. Zwar sind die Frauenarchive vergleichsweise gut strukturiert, doch ist „der Überlebenskampf oft hart (,das) zeigt die Liste derer, die aufgegeben haben oder sich erheblich einschränken mussten“ (Conny Wenzel). Oft werden die Archive auch ehrenamtlich betrieben. Im letzten Jahr war auf diesem Blog ein Interview mit einer Mitarbeiterin des Bochumer ausZeiten-Archivs zu lesen, das auch die Bochumer Frauenstadtrundgänge ins Leben gerufen hat. Diese sind, finde ich, ein besonders gutes Beispiel für das Sichtbarmachen von Frauenleben im öffentlichen Raum.

Auch jenseits der Frauenarchive: Frauengeschichten!

Aber auch in den nicht-genuinen Frauenarchiven liegen eine Menge bislang unerforschter Materialien aus frauenbewegten Zusammenhängen, die darauf warten, von geneigten Forscher*innen entdeckt zu werden. Im Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum (afas) haben wir unter dem Stichwort „Frauen/Lesben“ über 230 Plakate, 1000 Broschüren und 350 Zeitschriftentitel katalogisiert. Die Zeitschriften tragen Namen wie igitte. Dortmunder Frauenzeitung: ironisch, erotisch, gefährlich; Mamas Pfirsiche. Frauen und Literatur (Münster); Schlangenbrut. Streitschrift für feministisch und religiös interessierte Frauen (Bonn); Lesbenstich. Eine Zeitung der Lesbenbewegung (Düsseldorf) oder auch Roter Besen. Frauengruppe Marxistischer Studenten[sic!]bund Spartacus (Aachen). Dazu kommen viele Archiveinheiten– und nicht zu vergessen die ungezählten Buttons, Handzettel und Fotos! Das afas sammelt seit 30 Jahren Archivmaterial aus den Neuen Sozialen Bewegungen und links-alternativen Szenen. Es übernimmt Vor- und Nachlässe von Einzelpersonen, aber auch von Organisationen und politischen Gruppen. Hierneben werden kontinuierlich Zeitschriftenabos und Broschüren in den Bestand eingespeist. Auf diese Weise hat das afas inzwischen 1,5 Regalkilometer bewegte Geschichte angesammelt und systematisiert.

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image1 image2 image3 Ja, zum Teil wurde das Archivgut pragmatisch untergebracht. Bei Sammlungen sind wir aber inzwischen auf ordentliche säurefreie Archivkartons umgestiegen.

Besonders hervorheben möchte ich die Sammlung der Initiative Frauen-Presse-Agentur, kurz IFPA. Im sonst so allwissenden www finden sich kaum Hinweise zur IFPA. Es tauchen einige Bibliotheken und Archive auf, in denen der gleichnamige Info-Rundbrief vorhanden ist. Den einzigen inhaltlichen Anhaltspunkt entdecke ich in Ilse Lenz‘ Kompendium zur Neuen Frauenbewegung in Deutschland. Sollte es tatsächlich nur die paar Spuren geben, obwohl die IFPA ganze 19 Jahre lang öffentlichkeitswirksam für die Rechte von Frauen hierzulande und anderswo gekämpft hat?!

Das afas hat die größten Teile der Bonner IFPA-Geschäftsstelle übernommen. Das bedeutet, dass wir viele Meter an Protokollen, Korrespondenzen, Manuskripten, Teilnahme- oder Abonenntinnenlisten, Telegrammen, Publikationen u.v.m. haben, aus denen wunderschön hervorgeht, mit welcher Energie die Frauen gearbeitet haben. Besonders der organisatorische Wahnsinn (Stichwort: Selbstausbeutung), aber auch interne Streitigkeiten oder Dispute innerhalb der feministischen Szene lassen sich sehr lebendig an den Materialen verfolgen.

Als klar war, dass auch die Bundestagswahl 1980 nur wenige Frauen ins Parlament brachte, gründeten Frauen die Fraueninitiative 6. Oktober (am 5. Oktober war die Bundestagswahl). Sie wollten sich fortan vernetzen, um besser auf die Politik reagieren, über diese informieren und eigene Aktionen initiieren zu können. Im Jahr darauf begannen die Frauen auch mit ihrem Informationsrundbrief, der ab 1982 unter dem Namen IFPA über Frauenrechtsthemen und Termine informierte.

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Der IFPA-Rundbrief

Der harte Kern bestand aus Parteifrauen (zunächst vor allem SPD), Journalistinnen, Rechtsanwältinnen und anderen Feministinnen. Im Mai 1981 veranstalteten sie den 1. Bundeskongress der Fraueninitiative, auf den viele weitere folgen sollten. Der Bundeskongress war für viele Frauen ein politisierendes Erlebnis und prägte sie nachhaltig. Beim Archivieren habe ich zum Teil sehr emotionale Briefwechsel gelesen, in denen Frauen davon berichten, wie sie die Kongresse erlebten und den Organisatorinnen für ihre Initiative danken. Viele waren überwältigt von dem Gefühl der Solidarität, von dem Wissen, doch keine Einzelkämpferin zu sein. Im Zuge der Kongresse kristallisierten sich aber auch die „typischen“ Konfliktpunkte einer –relativ– heterogenen Bewegung heraus. Manche, u.a. Alice Schwarzer, bemängelten den Kongress als „zu breit angelegt“, andere empfanden den kategorischen Ausschluss von Männern als kontraproduktiv. Nicht nur von außen kam Kritik: Der Kongress 1988 lief unter dem ziemlich spannenden (aber verkitschten) Motto Lila Lüste. Feministische Illusionen und die Realität des privaten Glücks. Christina von Braun hielt dort einen Vortrag über Liebesmythen, illustriert am Beispiel der Geschwisterliebe und des Inzesttabus. Hinterher gab es Klagen: Der Vortrag sei zu verschwurbelt und somit ausgrenzend für Nicht-Geisteswissenschaftlerinnen gewesen, Frauen hätten sich eingeschüchtert gefühlt. Eine Teilnehmerin schrieb zynisch: „Donna Christina von Braun geruhte in der Rolle von Fräulein Oberstudienrat erlesene Erkenntnisse in exquisiter Weise vorzutragen“, ohne dabei Rücksicht auf das eigentliche Tagungsthema zu nehmen. Im IFPA-Rundbrief wurde sogar gefragt, ob von Braun sich patriarchalisch verhalten habe – Und wie Frauen eigentlich auf eine Enttäuschung durch eine Frau reagieren. Solche Eklats werfen weitere wichtige Fragen auf: Wie können wir trotz Heterogenität solidarisch sein, zusammen arbeiten, einander nicht zu dominieren versuchen? Oder auch: Was passiert, wenn das Akademisch-Theoretisierte in eine Bewegung gezogen wird?

Die Quelle, die zu mir spricht: Was können wir lernen?

Ebenso prägend wie die Kongresse war für die Fraueninitiative ihre Aktion Muttertag, die 1984 zum ersten Mal stattfand. Ganz nach dem Motto Nicht nur Blumen – Rechte fordern wir! Wir machen Putz in Bonn machten sie auf die Absurdität eines solchen „Ehrentages“ für Frauen aufmerksam. Auf einem Flugblatt der Aktion Muttertag 1985 heißt es: „Zwar wird lauter denn je von Gleichberechtigung geredet, doch das Ziel ist gleich geblieben: Uns unsere mühsam erkämpften Rechte zu nehmen und uns mit Almosen abzuspeisen; uns zu ‚flexibilisieren‘ für wirtschaftliche Interessen und anzupassen an patriarchalische Strukturen; uns in Unmündigkeit und Abhängigkeit zu halten, unseren Widerstand zu brechen.“ 1985 folgten rund 2000 Frauen dieser Ansage und versammelten sich in Bonn.

Nicht selten habe ich mir beim Erschließen der Unterlagen die Augen gerieben: Ach, das Thema war vor 30 Jahren bereits akut!?? Ich hätte nicht gedacht, dass „die Quote“ schon Mitte der 1980er von Feministinnen auf den Tisch gebracht wurde. Oder dass lange vor von der Leyen die schwierige Frage erörtert wurde, ob Frauen in der Bundeswehr einen weiteren Schritt zur Gleichberechtigung oder eher einen Schritt weg von einer antimilitaristischen Gesellschaft bedeuten!

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Aktionsmaterial zum Thema Quote und Frauenerwerbslosigkeit

 Natürlich war der Kampf gegen den §218 einer, der sich durch die Jahrzehnte zog. Mit öffentlichen Aktionen, beharrlichen Briefen an Kirchenmänner oder Poltiker*innen erinnerten die Initiativlerinnen stetig daran, dass es die Frauen sind, die über ihren Körper entscheiden. Auch im damals spektakulären Memminger „Abtreibungsskandal“ mischte die Fraueninitiative mit. Der Gynäkologe Dr. Theissen musste sich vor Gericht wegen „illegaler Schwangerschaftsabbrüche“ verantworten. Auch gegen 156 Patientinnen von Dr. Theissen wurde die Strafermittlung eingeleitet. Deutschlandweit organisierten Frauengruppen Solidaritätskampagnen. Bereits vor Gründung der IFPA waren einige Frauen in verschiedenen feministischen Zusammenhängen aktiv, so dass in unserer Sammlung auch Unterlagen aus Anfang der 1970er zu finden sind. Darin zeigt sich noch einmal eine andere Dimension des damaligen Irrsinns: Die Frauen verbreiteten Informationen und Kontaktadressen von Abtreibungskliniken im Ausland, vor allem in den Niederlanden, sowie Erfahrungsberichte von Frauen, die auf diese Weise abgetrieben haben. Mit Blick auf die Zustände vor 30 oder 40 Jahren können wir heutige Realitäten dann doch als mächtigen Fortschritt bewerten!

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Ein Demo-Plakat der Fraueninitiative 6.Oktober – nebst inzwischen wohl antikem Waschmittel-Karton „Paxi“

Beeindruckend sind neben den kontinuierlichen Appellen an Politik und Gesellschaft die Ansätze zur Selbsthilfe, die bei jüngeren Feministinnen heutzutage –meiner Einschätzung nach– nicht mehr so weit oben auf der Prioritätenliste stehen. Beispielsweise haben Frauengruppen in verschiedenen deutschen Städten Ende der 1980er mit Frauennachttaxis experimentiert. Da die Fraueninitiative zu allen Themen, die sie beschäftigte, ordentliche Pressesammlungen anlegte, ist auch der Frauennachttaxi-Versuch aus Düsseldorf dokumentiert. Darin setzen die Organisatorinnen sich auch mit den Widersprüchlichkeiten eines solchen Angebots auseinander: „Uns ist klar, daß ein Frauen-Nacht-Taxi die Gewalt gegen Frauen nicht beseitigen kann! Wir wollen (es) aber nicht als isolierte Forderung sehen (…)! Solange sich Frauen nicht mit der Einrichtung eines Frauen-Nacht-Taxis zufriedengeben, sondern grundsätzliche Änderungen anstreben, hat die Forderung nach einem Frauen-Nacht-Taxi offensiven Charakter!“

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Aus dem Bericht über das Düsseldorfer Frauennachttaxi – das Hexenmotiv war damals sehr beliebt!

An solcherlei Archivmaterial können wir studieren, wie Frauen früher gearbeitet und sich organisiert haben; wie unterschiedlich die feministischen Szenen in Deutschland waren; wie konfliktreich (aber doch kompromissfreudig) die Debatten verliefen; welchen gesellschaftlichen Anfeindungen sie ausgesetzt waren; welche Kontinuitäten es bis heute gibt, aber auch, welche Unterschiedlichkeiten zu jetzigen feministischen Debatten existieren. Darüber hinaus, und das finde ich ziemlich wichtig, können wir sehen, dass feministische Initiativen sich jahrzehntelang in bundesdeutsche Politik und Gesellschaft eingebracht haben: Feministinnen haben die Geschichte entscheidend geprägt! Um die Vielfalt dieser Geschichte wiederzugeben, können wir uns aber nicht (nur) auf bereits Erforschtes oder das bequeme Netz verlassen: Wenn emanzipatorische Geschichte nicht vergessen werden darf, dürfen auch ihre originalen Quellen nicht vergessen werden!
Die Initiativlerinnen schließen das Editorial des letzten IFPA-Rundbriefs von Dezember 2000 wie folgt: „Insgeheim hoffen wir auf die Kraft und Ungeduld unserer Töchter, die auf ihre Weise ihre Ketten sprengen werden. Wir werden ihnen den Rücken stärken.“

* Das Wort verschwiegen finde ich in diesem Zusammenhang passend, aber auch missverständlich: Frauengeschichte wurde verschwiegen, Frauengeschichte an sich ist bzw. ihre Protagonistinnen sind aber sicherlich alles andere als verschwiegen!

 

Linktipps:
Übersicht über Frauenarchive, -bibliotheken und –dokumentationsstellen:

http://www.ida-dachverband.de/einrichtungen/

Frauenarchive in NRW:
Bochum www.auszeiten-frauenarchiv.de
Bochum www.ruhr-uni-bochum.de/frauenarchiv/
Dortmund www.ub.uni-dortmund.de/projekte/frauenarchiv.html
Düsseldorf www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/frauenarchiv/
Köln www.frauenmediaturm.de
Münster www.muenster.org/schwarze-witwe/ [heisst inzwischen D.I.W.A. Frauenforschungsstelle Münster e.V.]

 

…und nicht zu vergessen: das Archiv für alternatives Schrifttum in Duisburg:

www.afas-archiv.de
Schwarzenberger Str. 147
47226 Duisburg
Tel.: 0 20 65 / 747 15
afas-archiv@t-online.de

Buchtipp:
Jürgen Bacia / Cornelia Wenzel:
Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten. Verlag Archiv der Jugendkulturen. Berlin 2013
Im Buch könnt ihr eine reich bebilderte Geschichte der Freien Archive finden, die gleichzeitig eine Geschichte alternativer Bewegungen und Protestkultur ist!

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