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Tinder mich so richtig durch!

Tinder mich so richtig durch! published on Keine Kommentare zu Tinder mich so richtig durch!

von Januschka Jalava

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Lilli Boheme

Oder: „Wir können ja später allen sagen, wir hätten uns im Supermarkt kennen gelernt“

Als ich noch zur Schule gegangen bin, hatten alle Knuddels. Bei Knuddels legte man sich einen kreativen Nicknamen zu und dann ging es in Themenchaträume, um mit Fremden über Punk oder Skateboard fahren oder die Stadt, in der man wohnt zu reden. Schon damals wurde vor den Gefahren gewarnt, die drohen, wenn man sich mit Fremden aus dem Chat verabredet. Diese Gefahren waren natürlich nicht herbei geredet, sondern es kam vor, dass sich jemand – gerade gegenüber jungen Frauen und Mädchen – als jemand ausgab der er (ich finde es schwierig hier zu gendern, weil ich von Männern spreche) nicht war. Trotzdem fanden viele Menschen bei Knuddels eine*n Partner*in. Wenn sie es vermeiden konnten, haben sie aber niemandem gesagt, wo sie sich kennen gelernt hatten.

Ich kenne niemanden der*die noch bei Knuddels angemeldet ist, aber den anrüchigen und gefährlichen Ruf ist Online-Dating meiner Meinung nach nicht losgeworden. Und auch wenn ich auf feministischen Blogs und Websites surfe, lese ich oft viel Kritisches bis enorm Ablehnendes. So auch in diesem Blogbeitrag, der die Dating- App tinder als „abartigen menschenverachtenden Online- Supermarkt“ bezeichnet. Das sind Momente in denen ich mich schlecht fühle, mich aber gleichzeitig frage, warum eigentlich? Ich finde tinder nämlich großartig. Aber wenn ich dort surfe (Oder besser swipe, denn für alle, die dort nicht angemeldet sind: Bei tinder kann man eine Person, je nachdem ob man sie ansprechend findet oder nicht, nach rechts oder links schieben, wischen, oder eben swipen) stelle ich oft fest, dass sich die angemeldeten Nutzer*innen anscheinend selbst oft für ihren Tinderaccount schämen. Bei manchen ist zu lesen: „Wir können ja später allen sagen, wir hätten uns im Supermarkt kennen gelernt. 😉 “. Das zeigt für mich zwei Dinge.

Erstens kann man anscheinend immer noch nicht offen zugeben, dass man sich online auf Partner*innensuche begeben hat und ganz besonders nicht auf tinder. Und Zweitens suchen nicht alle Menschen bei tinder nur Sex. Denn wer das Date später seinen Freund*innen vorstellen möchte, plant vermutlich, das Treffen nicht bloß auf „hartem, hemmungslosen und erotikfilmtauglichen Sex (um mal wieder was zu spüren)“ beruhen zu lassen.

Das macht für mich deutlich, dass die Leute bei tinder die gleichen Menschen sind, die auch in der richtigen Welt rum laufen. Manche von ihnen suchen nach Sex. Manche suchen eine lebenslange Beziehung. Manche suchen nach Freundschaft. Manche sind nett und manche sind Arschlöcher. Manche verhalten sich gegenüber Frauen sexistisch und abwertend. Manche sind respektvoll und feministisch. Wie im richtigen Leben. Aber im Gegensatz zur persönlichen Begegnung kann ICH die Person erst mal optisch abchecken, ICH kann entscheiden, ob ich ein Gespräch beginnen möchte und ICH kann den Kontakt abbrechen, wenn er mir unangenehm wird. Die Gegebenheiten sind einfach andere: In der App sehe mir eine Person an, die nicht sieht, wann und wie lange ich sie mir angucke. Ich kann mir auch einen Tag lang in Ruhe überlegen, ob ich sie ansprechen möchte und sie ist dann nicht längst verschwunden oder fragt sich, warum ich dauernd so komisch rüber gucke.

Wenn ich sage, dass ich Online- Dating betreibe, sagen mir viele Leute, ich sollte doch stattdessen mal wieder ausgehen. Wisst ihr wie oft es mir passiert, dass ich in einem Club oder einer Bar von einer Person angesprochen werde, die ich attraktiv oder interessant finde? Nie. In fast allen Fällen möchte ich in der Situation gerade entweder nicht angesprochen werden oder die Person ist mir unangenehm. Wenn ich höflich antworte, werde ich sie nicht wieder los. Wenn ich unfreundlich werde, gibt es verschiedene Eskalationsstufen, in denen das Ganze enden kann. In jedem Fall ist der Abend gelaufen.
Bei tinder funktioniert es folgendermaßen: Ich sehe eine Person, schaue ihr Profil an und wenn ich sie gut finde, swipe ich nach rechts. Wenn die Person mich auch gut findet, erscheint ein Fenster und ich kann mit ihr chatten. Wenn nicht, passiert gar nichts.

Ja, bei tinder geht es in erster Linie um das Aussehen der angemeldeten Personen. Aber seien wir mal ehrlich: Wenn ich jemanden im Supermarkt treffe, geht es dann im ersten Moment um die tiefgründige Art, mit der er*sie die Erbsen aus der Tiefkühltruhe zaubert? Um das gute Gespräch, dass wir über die Druckfestigkeit der Mango führen? Natürlich nicht. Abgesehen davon, dass ich noch nie in einem Supermarkt angesprochen wurde (oder im Fitnessstudio oder auf der Rollschuhbahn oder was die BRAVO Girl sonst noch an Flirtlocations parat hat) geht es beim ersten Eindruck ehrlicherweise fast immer zu einem großen Anteil ums Aussehen. Und tatsächlich ist es sogar so, dass ich beim ersten Blick aufs Online-Profil oft mehr über die Person erfahre, als beim Blick in ihren Einkaufswagen. Im Profil steht zum Beispiel oft welche Absichten sie hat. Das habe ich bei manchen Menschen im real life oft nach mehreren Treffen nicht gewusst.

Ein paar Dinge möchte ich noch sagen zu „Tinder yourself“, dem Artikel in dem über emotionale Verrohung und Konsumverhalten bei der Wahl der Sexualpartner*innen geklagt wird. Ich hatte den Eindruck, es ist der Autorin sehr wichtig, deutlich zu machen, dass sie nicht auf Sex und eine Beziehung verzichtet, weil niemand mit ihr ins Bett gehen möchte, sondern weil sie sich bewusst dagegen entschieden hat. Man könnte mir im Gegenzug nun unterstellen, dass ich derzeit niemanden abkriege, zum Beispiel weil ich nicht hübsch genug bin, und deswegen aus Verzweiflung in den anarchischen Schlund herzloser Onlinedates herabgesogen wurde. Kann ja sein. Aber ist es nicht schön, wenn ich online Menschen finde, denen es ebenso geht? Die nett und liebesbedürftig sind, aber vielleicht schüchtern. Die noch nie an der Käsetheke angebaggert wurden? Ich glaube es gibt viele Menschen, die nicht aus einem Angebot von neun potentiellen Sexualpartner*innen wählen und es bewusst ablehnen können, weil ihnen dieses Angebot aus verschiedenen Gründen gar nicht erst gemacht wird. Zum Beispiel weil sie nicht gängigen Schönheitsnormen entsprechen, sehr still und zurückhaltend sind oder weil sie wenig unter neue Leute kommen.
Bei tinder ab und zu ein Match (also einen Treffer) zu haben, hat mein Selbstbewusstsein gestärkt und dafür schäme ich mich nicht. Manchmal habe ich mit den Leuten dann auch nicht gechattet, aber ich wusste, dass sie sich auch gut fühlen, weil ich sie attraktiv finde. Online gibt es Menschen die Dicke*Fette Menschen mögen, Menschen die Menschen mit Glatze mögen oder Menschen die nur auf die Selbstbeschreibung, nicht auf das Äußere achten. Es gibt ja schließlich auch noch andere Datingprofile, zum Beispiel OKCupid, bei denen Charaktereigenschaften, Vorlieben und Ziele viel ausführlicher abgefragt werden (und die auch nicht so stark auf einer Geschlechterdichotomie aufbauen wie tinder). Die Wahrscheinlichkeit solche Menschen zu treffen und zu wissen, dass sie auf der Suche, vielleicht nach mir, sind, ist im Internet doch viel höher als bei den Zucchinis.

Noch etwas anderes hat mir an diesem Artikel nicht gefallen und zwar das Schwert der moralischen Verurteilung, dass über allen Menschen geschwungen wurde, die unverbindlichen Sex suchen. Wie oft muss man sich von irgendwelchen sexistischen Arschlöchern anhören, dass Frauen, die mit zu vielen Männern vögeln, Schlampen sind, die es nötig haben? Und jetzt lese ich nahezu das Gleiche auf einem feministischen Blog, verpackt im Mantel vermeintlicher Konsumkritik. Und mit dem Verweis, dass die klassische heteronormative Welt von Oma und Opa wesentlich romantischer und ehrlicher war. Ich finde es toll und freue mich für jeden Menschen, der an der Straßenecke der Liebe seines Lebens begegnet und sich für den Rest seines Lebens mit ihr auf geistigen und emotionalen Ebenen austauscht, die andere nur auf Pilzen erreichen können. Aber ich finde es ehrlich gesagt noch toller, wenn man im Internet als Frau heutzutage Männer kennen lernen und mit ihnen ins Bett gehen kann, ohne einen Ehevertrag zu unterschreiben und ohne sich für dieses Bedürfnis herab würdigen lassen zu müssen. Das gleiche gilt für jede Art von nicht- heteronormativer Romanze. Ich finde es einfach super, dass man sich entscheiden kann. Und welche dieser beiden oder besser der vielen Varianten man wählt, sei doch bitte jeder*jedem selbst überlassen.

Noch eine zusätzliche Anmerkung: Natürlich gibt es die Gefahren, die es zu meinen Knuddels-Zeiten gab heute immer noch und sie betreffen nicht nur Schüler*innen. Ich kann nur dazu raten, sich nicht allein auf das eigene Bauchgefühl zu verlassen, sondern sich mit Unbekannten zunächst an einem öffentlichen Ort zu treffen. Zusätzlich kann man sich, falls man gemeinsam einen privaten Raum aufsucht, vorher den Personalausweis vorzeigen lassen und schickt den Namen und die Adresse einer Person des Vertrauens. Das ist natürlich nicht super-erotisch und kann auch nicht alle Eventualitäten ausräumen, es steigert aber das eigene Sicherheitsempfinden.

 

 

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