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Mittlerweile ist es lange her

Mittlerweile ist es lange her published on Keine Kommentare zu Mittlerweile ist es lange her

von Frau Raclette

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(c) Albert Byrd

Mittlerweile ist es lange her. Wir sehen uns häufiger, manchmal reden wir länger, manchmal grüßen wir uns auch nur flüchtig. Und es ist okay. Manchmal freue ich mich sogar, dich zu sehen. Nach all dem, was passiert ist, freue ich mich, dass wir gut miteinander auskommen. Das ist selten, denke ich mir, deshalb schätze ich es. Wenn ich an den einen Nachmittag denke, wird mir unwohl. Es hat geregnet. Wie passend, murmelt mein Kopf im Nachhinein ironisch. Du hast mir eine Nachricht geschrieben und gefragt, ob du etwas in meiner Wohnung für eine gemeinsame Freundin hinterlegen könntest. Klar, dachte ich mir, warum nicht. Ich war ja schließlich zu Hause. Es war kein großer Aufwand. Du kamst rein und gabst mir eine schwere Tasche. Ich schaute kurz rein und versicherte, dass ich es weitergeben würde. An unsere kurzen Begegnungen gewöhnt, dachte ich, dass du schnell wieder gehen würdest. Du gingst in die Küche, nahmst dir ein Glas Wasser und ließest dich auf dem Stuhl nieder. Ich lehnte mich an die Küchenzeile. Wir redeten zunächst über belanglose Dinge. Dinge, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann. Ich wurde unruhig. Warum bleibt er denn so lange, dachte ich mir. Ich fragte mich, ob ich irgendetwas falsch eingeschätzt oder falsch verstanden hatte. Plötzlich sahst du mich an und meintest, dass dir alles furchtbar leid tue. Dass es zwar lange her sei, aber, dass du dich ja nie dafür entschuldigt hättest. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her. Ich merkte, wie mein Herz stehen blieb und ich hatte das Gefühl, für einen Moment lang zu erstarren. Unsere Blicke trafen sich kurz, dann schweifte er mit seinen Augen ab und starrte auf den Boden. Wovon redete er jetzt? Meine Gedanken rasten in meinem Kopf. Natürlich wusste ich irgendwo, wovon er redete. Aber wollte ich überhaupt wissen, was er mir zu sagen hatte? Schweigen. Ich versuchte mich aus meiner Starre zu lösen und fragte ihn monoton, was ihm denn leid tun würde. Es brach nur so aus ihm heraus. Dass er ja viel nachgedachte habe. Dass er ja schon ziemlich egoistisch gewesen sei. Dass er wüsste, dass er mich sehr verletzt hätte. Und dass er sich jetzt gar nicht mehr vorstellen könnte, sich so zu verhalten. Dass er sich geändert hätte. Mein Herz schlug bis zum Hals, in meinem Kopf hämmerten irgendwelche kleinen Wesen alles kurz und klein. Ich konnte nicht nachdenken. Ich spürte einen Druck auf meinem Brustkorb. Ich versuchte tief zu atmen, es gelang mir nicht. Wie komme ich jetzt aus dieser Situation heraus, fragte ich mich selbst. Jeder Muskel meines Körpers war angespannt. Wenn ich jetzt an die Situation denke und darüber schreibe, wird mir übel. Ich versuchte, meine Reaktion zu unterdrücken. Was ist denn, fragte ich mich selbst. Es hat ihn doch bestimmt auch Überwindung gekostet, hier her zu kommen und mir das zu sagen. Ist es nicht gut, wenn er darüber nachgedacht hat und jetzt erkenntnisreicher ist? Ist es nicht aufrichtig und fürsorglich von ihm, sich bei mir zu entschuldigen? Ich bombardierte mich selbst mit Fragen und versuchte gleichzeitig zu überlegen, wie ich diese Unterhaltung beenden könnte. Ich zwang mich, weiter verständnisvoll Fragen zu stellen. Irgendwann war das Gespräch beendet. Er stand auf, nahm seinen Regenschirm und ging zur Tür. Er drehte sich zu mir, lächelte mich an. Er schien sichtlich erleichtert. Ich presste ein Tschüss heraus und verzog mein Gesicht zu einem gequälten Grinsen. Ich schloss die Tür hinter ihm und ging wieder an meinen Schreibtisch. Das war echt seltsam, dachte ich mir. Mein Körper funktionierte wieder normal. Nun gut dachte ich, es ist ja weiter nichts. Ich widmete mich wieder meiner Arbeit. Drei Tage später traf ich mich mit einer Freundin.Nach einiger Zeit fiel mir die Situation wieder ein und ich schilderte ihr, was in meiner Küche passiert war. Sie hob die Augenbrauen. Nachdem so viel Zeit vergangen ist? Fragte sie überrascht. Plötzlich hämmerte es in mir. Was ist denn jetzt schon wieder, dachte ich. Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg. Ich schloss die Augen und versuchte, mir die Zeit zu nehmen und meine Reaktion zu verstehen. Gleichzeitig meldete sich mein schlechtes Gewissen. Es war doch nur nett von ihm gemeint, bist du nicht froh darüber, dass er sich jetzt endlich entschuldigt hat? Du hast doch damit abgeschlossen, eine Entschuldigung anzuhören ist doch jetzt nicht mehr so schwer, oder? Ich öffnete die Augen. Nein sagte ich laut. Nein, ich bin nicht froh, dass er sich entschuldigt hat. Mittlerweile ist es lange her, ich habe mit unserer Beziehung abgeschlossen. Ja, du kannst dich entschuldigen, aber ich wollte es nicht hören. Du hast mich vorher nicht gefragt, ob wir reden können. Du bist unter einem Vorwand vorbei gekommen. Du hast deinen Ballast einfach bei mir abgeworfen. Du hast mich damit überrannt, in meiner Küche. Einem Ort, an dem ich mich wohl fühle, der auch meine Privatsphäre bedeutet. Nein, ich bin nicht froh, dass du dich entschuldigt hast. Ich verstand, was mein Körper mir sagen wollte: Er hat eine Grenze überschritten. Du hast meine Grenze überschritten. Dein Verhalten war grenzüberschreitend für mich.

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