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Endlich zuhause

Endlich zuhause published on Keine Kommentare zu Endlich zuhause

von Mille Fleur

Nachts_Dina_Bea
Bild: Rosine Wagemut und Bea

Es ist Dienstagabend. Spätsommer. Müde, verschwitzt und zufrieden mache ich mich nach dem Sport auf den Heimweg. Der Weg ist recht kurz, draußen ist es noch warm. Ich behalte meine Sportkleidung einfach an. Ich kann ja bald unter die Dusche hüpfen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich Sporthose und –top anlasse. Was ist denn auch dabei?

Der Heimweg ist immer derselbe: eine große, stark befahrene Straße in der Bochumer Innenstadt. Viele Menschen sind unterwegs, der Berufsverkehr ebbt langsam ab. Ich gehe an einer Reihe von Ladenlokalen vorbei, über die große Kreuzung. Kurz vor der Autobahnbrücke spricht mich plötzlich jemand an. Kann man es überhaupt ansprechen nennen? Vielmehr drückt er mir einen Spruch: „Du hast wirklich einen geilen Arsch!“.

Ich ignoriere den Spruch und gehe weiter. „Nein ernsthaft! So einen geilen Arsch hab ich wirklich schon lange nicht mehr gesehen! Er sieht richtig geil aus!“. Da der Typ meinen starren Blick nach vorne als auch mein schnelleres Gehen anscheinend nicht als Zurückweisung interpretiert, werfe ich einen kurzen Blick über meine linke Schulter. Besagter Typ läuft nämlich die ganze Zeit schräg hinter mir. Ich sehe jetzt auch warum dem so ist: während er sich verbal über meinen „geilen Arsch“ auslässt, starrt er unentwegt demonstrativ auf eben diesen. Plötzlich erkenne ich das Gesicht wieder: es ist ein Typ, der sich vor etwa 400 m in einem Hauseingang eine Zigarette angezündet hat. Ich hatte ihn flüchtig angeschaut, als ich an ihm vorbeigegangen war.

400 m – das ist eine ordentliche Distanz, die wir beide da zurückgelegt haben. Und mir wird bewusst, dass er diese ganze Strecke 1. einfach hinter mir hergegangen ist und 2. vermutlich unentwegt auf meinen Po gestarrt hat. Ekel macht sich breit und ich beschließe zu reagieren. Ich sehe es nicht mehr ein und die Situation wird immer ungemütlicher. „Lass mich einfach in Ruhe!“ – diese Reaktion wirkt weder schlagfertig noch so als würde sie viel ausrichten können. Es funktioniert auch nicht. Er versteht mich nicht. Will mich nicht verstehen. Vielleicht denkt er, dass ich das „Kompliment“ per stetiger Wiederholung irgendwann doch noch annehmen werde. Er kommt immer näher. Mittlerweile sind wir auf gleicher Höhe. Er starrt mich von der Seite an. „Entweder gehst du auf die andere Straßenseite oder ich werde es tun!“; ich versuche deutlich zu machen, dass ich die Situation so nicht akzeptiere. Seine Reaktion auf meine Forderung: „Darf ich dich ein Stück begleiten? Ein Stück mit dir zusammen gehen?“. Ich frage mich ernsthaft, ob er nicht merkt, dass er das eh schon seit geraumer Zeit tut. Noch einmal drehe ich mich um, blicke ihn an und sage: „Nein!“.

In meinem Kopf dreht sich alles und ich weiß nicht mehr, ob das was ich hier tue wirklich das Richtige ist. Hätte ich ihn von Anfang an konsequent ignorieren sollen? Wieso habe ich ihn angesehen als ich an diesem Hauseingang vorbeigegangen bin? Wieso fallen mir keine schlagfertigen Sprüche ein? Wo ist mein Durchsetzungsvermögen hin? Ein anderer Teil in mir ist glücklicherweise noch ein bisschen aufmüpfig und wird sauer: Habe ich nicht ein Recht darauf, einfach NEIN zu sagen und meinen Raum einzufordern? Wie kann es sein, dass ich am helllichten Tag auf offener Straße so etwas erleben muss? Blöde Sprüche, unangenehme Blicke – darauf achte ich mittlerweile ja schon gar nicht mehr bzw. kann einigermaßen damit umgehen. Aber die letzten 5 Minuten – das war etwas anderes. Das war zu viel. Das war erdrückend, einengend, so unglaublich real und greifbar. Ich fühlte mich unwohl und mein einziger Gedanke war: „Bitte fass mich nicht an! Bitte lass mich in Ruhe! Hoffentlich passiert mir nichts Schlimmeres!“.

Tatsächlich scheint der Typ langsam zu verstehen. Zumindest lässt er die Sprüche und hält an. Ich gehe einfach weiter und hoffe, dass er endlich umdreht. Besser noch: sich in Luft auflöst. Bis zu meiner Wohnung sind es noch einmal 400 m. Ich fühle mich immer noch verfolgt und in meinem Kopf spielen sich unterschiedliche Szenen ab. Dazu gesellen sich fiese kleine Fragen. Sie stellen sich mir penetrant, immer und immer wieder: habe ich ihm irgendwelchen falschen Signale gesendet? Hätte ich ihn nicht anschauen sollen? Was hätte noch passieren können? Mittlerweile bin ich an der Haustür angekommen. Ich blicke mich zur Sicherheit noch einmal um und gehe hinein. Endlich Zuhause!

Ich stehe in der Wohnung und weiß nicht wohin mit mir. Ich zittere und bin sprachlos. Die Unruhe ist immer noch da. Sie hat es sich in mir gemütlich gemacht und wird durch die Bilder in meinem Kopf genährt. Ich gehe ins Wohnzimmer, stelle meine Tasche ab. Mein Freund kommt aus der Küche und schaut mich an. Er wirkt irritiert und fragt: „Was ist denn mit dir passiert?“. Ich blicke ihn an und spreche es aus: „Ich glaube, dass ich grade sexuell belästigt wurde“. Es ist raus. Ich habe es ausgesprochen. Ich habe das Kind beim Namen genannt. Es ist passiert. Trotzdem ist es mit einem gewissen Zweifel gepaart. Darf ich diese Situation jetzt so nennen? Er hat mich ja nicht einmal angepackt. Er hat mich ja nur angesprochen. Bei meinen Freund*innen würde ich jetzt sofort ermutigend unterstreichen, unterstützend zustimmen und trösten. Bei mir selbst ist es etwas anderes. Irgendwie viel schwieriger.

Ich habe plötzlich das dringende Bedürfnis heiß zu duschen und für mich alleine zu sein. Im Badezimmer kommt die Szene wieder hoch. Gefolgt von den Fragen, auf die ich immer noch keine Antwort habe. Das Gedankenkarussell geht weiter. Neue Fragen kommen auf: Wieso habe ich meine enge Sporthose angelassen? Wieso war meine Jacke denn auch nur so kurz und gab den Blick auf meinen Po frei? Wieso hab ich das denn auch so provoziert? Und plötzlich richten sich die Fragen nicht mehr gegen die Situation, gegen ihn. Viel schlimmer: sie richten sich gegen mich. Gegen mein Verhalten und vor allem auch gegen meinen Körper. Wieso tue ich das? Und wo kann ich das bitte wieder abschalten? Ich stelle doch tatsächlich gerade mich in Frage, nicht mehr ihn – den Typ, der mich belästigt, mich einfach verfolgt und mir seine Worten aufgezwungen hat.

„Victim blaming“ und ich bin mittendrin. Alleine mit mir, der Situation und der Art und Weise, wie ich grade damit umgehe. Ich stelle mich als Frau* in Frage und suche die Schuld bei mir. Als Weg, um dieses Erlebnis irgendwie erklärbar zu machen. Als Weg, dieses Erlebnis nachvollziehen zu können. Ausgerechnet ich. Eine erklärte Feministin, die sich stark macht gegen Dinge wie „street harrassment“ und Menschen immer ein offenes Ohr schenkt, wenn sie über ihre Erfahrungen sprechen möchten. Mit dem hohen Anspruch, den Leuten zur Seite zu stehen und ihnen Scham- und/oder Schuldgefühle zu nehmen. Ihnen zu zeigen, dass nicht sie Schuld sind an dem was passiert ist, sondern die Arschlöcher, die diese Situationen initiieren. Ich werde wütend. Erst auf mich, dann aber schnell wieder auf das blöde System, in dem frau* in unserer Gesellschaft steckt.

So sage ich mir also im Badezimmer „Aufstehen, Feminismus-Button grade rücken und weitergehen“, und gehe zurück ins Wohnzimmer. Mein Freund ist immer noch schockiert und schaut mich an. Er weiß nicht so recht, was er sagen soll. Ich ja auch nicht. Also stelle ich mich hin, mache den Rücken grade und sage: „Weißt du was? Ich hab auch einen geilen Arsch! Aber wenn das jemand sagen darf, dann bin das ich! Und wenn sich den jemand anschauen darf, dann bin das erst mal ich und dann auch du.“

 

Reprise

Leider hielt das durch meine eigene kleine, bestärkende Rede ausgelöste „Typ, du kannst mich mal!“ nicht lange an. Richtig geärgert habe ich mich genau eine Woche später: Sportkurs, Heimweg und was mache ich? Ich ziehe eine lange Strickjacke an, die meinen Po mehr als genug bedeckt und wähle einen anderen Weg nach Hause. Es fühlt sich so an als hätte dieser Typ „gewonnen“. In der ganzen Geschichte die Oberhand behalten. Mein Selbstbewusstsein, mein Auftreten irgendwie gebrochen.

Seit dieser Geschichte ertappe ich mich außerdem vermehrt dabei, dass ich mich insgesamt auf offener Straße unwohl fühle. Ich bin wieder viel sensibler in meinem „Durch die Welt gehen“ und Situationen wahrnehmen. Ich fühle mich eingeschränkter, schreckhafter und unsicherer. Ich erwische mich dabei, wie ich mich umdrehe, wenn ich an Männern* vorbeigegangen und sie mich angeschaut haben, aus Angst, dass mich wieder jemand verfolgt. Größeren Gruppen versuche ich ganz aus dem Weg zu gehen. Und jetzt wo der Herbst naht und es wieder früher dunkel wird, werde ich den Heimweg vom Sport nach Hause sicherlich noch vorsichtiger zurücklegen.

Meine Erfahrung und die Art und Weise, wie ich damit umgegangen bin bzw. immer noch umgehe, bestärken mich zu sagen, dass so eine Mini-Serie wie „Frau*sein erfahren“ unglaublich wichtig ist. Es hilft, anderen zu zeigen, dass sie mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen nicht alleine sind und dass es hilfreich sein kann darüber zu sprechen. Es hilft außerdem auch eigene zurückliegende, vielleicht verdrängte Situationen neu zu betrachten, zu reflektieren und mit dem ein oder anderen Erlebnis eine gewisse Art von „Frieden“ zu schließen, indem die Geschichte ausgesprochen, sichtbar wurde und die Last nicht mehr alleine getragen wird.

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