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Jemand anderes muss die Geschichte erzählen

Jemand anderes muss die Geschichte erzählen published on Keine Kommentare zu Jemand anderes muss die Geschichte erzählen

von Esra Canpalat

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Irgendwann am Abend kommt die Zeit, zu der alle Väter nach Hause finden. Sie lag auf dem Kanapee, auf ihrem Bauch, der sich anfühlte als sei er aus Stein. Der Magen bog sich hin und her, verkrampfte und löste sich wieder, wie das gelbe Tuch in der Küche, das die Mutter nass machte und auswrang, nass machte und wieder auswrang. Eine routinierte Bewegung. Ein routinierter Schmerz im Bauch, immer einige Minuten, bevor der Vater zuhause eintraf. Dafür brauchte man nicht auf die Uhr zu schielen. Der Bauch hatte seine eigene Uhr und wusste, wann die braunen Lederschuhe eintrafen. Klack Klack. Das Geräusch der aneinander geschlagenen Schuhe, um den Staub abzuschütteln. Die Frage, die dann sofort im Kopf schwirrte: Wie wird es heute sein?

War er zornig, dann war das Klackern laut und die Schuhe wurden lieblos in den Schrank geworfen, noch bevor ihre ältere Schwester Umay sie entgegen nehmen konnte. Manchmal traf sie der Schuh am Kopf. Mittlerweile konnte sie ausweichen. Das machte ihn aber nur wütender. Doch die Hand konnte das ebenso gut, wie der Schuh. Vielleicht hatte er aber auch gute Laune und brachte Kirschen aus dem Laden mit. Man wusste es nicht. Auch der Bauch nicht.

Sie schob ihre Hände unter den Bauch, wandte den Kopf von der Wand weg hin zur Tür. Wenn er in das Zimmer eintrat, musste sie schnell sein.

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Wenn ich wieder komme, sagte sie, dann sind meine Schuhe besser blank geputzt. Sonst zerreiße ich euch in Stücke. Meine Güte, sagte Umay. Woher hat sie das bloß? Im Grunde wussten die beiden, wen ihre älteste Schwester Züleyha versuchte nachzuahmen. Und schlau genug waren sie, es sich nicht mit ihr zu verscherzen. Auch ihre Schuhe flogen ganz gerne mal in ihre Gesichter.

Umay war aber schlauer, so schien es ihr. Fast so weise wie die Großmutter. Schließlich bewies sie mit ihren elf Jahren Humor, wenn sie fragte, woher ihre älteste Schwester bloß dieses Verhalten her hatte. Und sie konnte ihre Mitmenschen schon in jüngeren Jahren einschätzen. So lernte sie schon früh viel von ihrer Schwester, die so oberschlau war, dass der Vater sie oft dafür lobte. Mein schlaues Kind, sagte er dann immer zu ihr. Aber im nächsten Moment konnte der Schuh wieder fliegen. Seine Schuhe, ihre Schuhe. Was macht das für einen Unterschied?, lachte Umay, während sie Züleyhas feine Schühchen mit schwarzer Schuhcreme beschmierte. Irgendwann werden sie alle Schuhe in diesem Haus durch die Gegend geworfen haben, bis keiner mehr auffindbar ist. Und dann, gluckste sie, müssen sie mit Socken aus dem Haus.

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Züleyha ging bereits in die Schule. Voller Neid starrte sie manchmal stundenlang vom Kanapee aus auf die schwarze Schuluniform mit dem weißen Kragen, die an einem Kleiderbügel an der Tür des Kleiderschranks hing. Wenn es so weit war, würde sie auch ihre Uniform genau so aufhängen, sodass alle sie sehen konnten.

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Tante Havva und Onkel Ümit hatten ein Grundstück gekauft, auf dem sie planten, ein großes Haus für die ganze Familie zu bauen. Kommt, ihr kleinen Zicklein, sagte die Großmutter. Wir helfen eurer Tante und eurem Onkel ein wenig. Mit Umay schleppte sie einen Backstein nach dem anderen, während Großmutter mit geschlossenen Augen in der Sonne saß, die Hände auf den ausgestreckten Beinen ruhend. Irgendwann entdeckte Umay auf der anderen Seite des Grundstücks einen Brombeerstrauch. Sie sammelten die Früchte in ihren angehobenen Röcken, stopften sich einige bereits beim Pflücken in den Mund. Erst als sie ihre Beute der bereits eingedösten Großmutter präsentierten, bemerkten sie die roten Flecken auf ihren Kleidern, fürchteten schon den Zorn der Mutter. Ich wasch euch eure Kleidchen, sagte die Großmutter und grinste mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen.

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Großmutter, wohin gehst du?, fragte sie. Ach, sagte die Großmutter und packte sich, wie es sich für eine alte Frau gehört, mit gebeugtem Rücken an die Seite. Wohin soll ich schon noch hingehen in meinem Alter? Wenn, dann gehe ich nur noch bis zum Friedhof. Ich komme mit dir, sagte sie. Die Großmutter lachte. Du kleine Hure gehst also bis zum Friedhof mit mir und gehst dann ohne mich wieder zurück, was? Komm her und lass dich drücken.

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Die Schuhe flogen wieder im Haus, als die Mutter die Briefe unter Züleyhas Kissen fand. Umay und sie durften nach diesem Vorfall nicht eingeschult werden, damit sie nicht auch auf solch dumme Gedanken kamen. Umay kennt schon die Grundrechenarten, kann schon lesen und schreiben, sagte der Vater. Das ist nicht schwer. Ich bringe es dir bei.

Wenn sie nun vom Kanapee aus zum Schrank blickte, hing dort nichts an der Tür, außer dem Spiegel, der ihr angeschwollenes, nasses Gesicht zeigte. Bis ihre jüngeren Brüder alt genug waren, zur Schule zu gehen, sah sie keine Schuluniform mehr im Haus.

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Jetzt fängt der auch schon an, sagte Umay und nickte mit dem Kopf in die Richtung, in der der älteste der Brüder verschwunden war, nachdem er befohlen hatte. Seine Hosen wollte er immer fein gebügelt haben mit einer Bundfalte in der Mitte.

Züleyha war schon mit vierzehn aus dem Haus. Der junge Mann, der ihr die Briefe geschrieben hatte, hatte sie zur Frau genommen. Nun erwartete sie schon ihr zweites Kind. Bald bist du auch weg, sagte sie zu Umay, die mit einem Cousin zweiten Grades verheiratet werden sollte. Umay schob das glühende Eisen über die Leinenhose. Jeder verlässt irgendwann sein zuhause und baut sich ein neues Nest auf, sagte sie.

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Über die Jahre war der Vater älter und milder geworden. Vielleicht hatte er auch nur vergessen, wie zornig er immer gewesen war. Man redete nicht über Vergangenes in diesem Haus. Wenn sie den Tisch für das Abendessen deckte, lachte er nun, wenn sie die Gläser vergaß. Du wirst es nie lernen, sagte er. Dafür wurde die Mutter immer unbarmherziger. Als sie sie einmal dabei erwischte, wie sie mit der Stimme im Radio sang, nannte sie sie eine kleine Hure. Nicht auf die witzig-liebevolle Art, wie es die Großmutter getan hatte. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und weinte.

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Ich habe gestern Nacht von einem Mann geträumt. Er trug einen auberginenfarbenen Anzug. Und dann?, fragte Umay und ließ einen Sonnenblumenkern knacken. Er trat in unser Wohnzimmer und Mutter sagte: Das ist der Mann, der um deine Hand anhalten will. Und was hast du gesagt?, fragte Umay. Gar nichts. Ich habe mein Gesicht in meine Hände vergraben und geweint. Dann bin ich aufgewacht.

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Tanzkompanie Pilobolus

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Der da, sagte Umay und zeigte vom Balkon herunter. Der will um deine Hand anhalten. Sie blickte herunter. Seine dunklen Haare waren zur Seite gekämmt, sein Gang war forsch. Der da? Der ist doch viel zu klein, sagte sie. Umay lachte. Na, das wird doch ein schönes Hochzeitsfoto. Der kleine Mann und du.

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Als er das erste Mal in ihr Haus kam, um den Vater zu bitten, sie heiraten zu dürfen, trug er einen auberginenfarbenen Anzug. Jetzt hör aber auf, sagte Umay.

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Auf dem Hochzeitsfoto war sie einige Zentimeter größer als er, weil der Friseur ihr die Haare hochgesteckt hatte.

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Er war schon ein Jahr weg, als er eines Tages mitteilte, dass sie und die kleine Zeynep nachkommen sollten. Noch hätte er keine passende Wohnung gefunden, aber sie könnten fürs Erste bei einem Freund und seiner Frau unterkommen. Europa!, sagte Umay. Überleg doch mal: Da gibt es doch überall diese hübschen Häuser. Freu dich doch! Die Mutter erzählte nun überall voller Stolz, dass ihre Tochter bald nach Deutschland ginge. Der Schwiegersohn hätte dort Arbeit und würde ihnen ein großes Haus kaufen.

Am Tag ihrer Abreise standen alle aus der Familie, alle Nachbarn auf der Straße und verabschiedeten sich von ihr. Ich gehe nicht, weinte sie und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Ich werde nicht gehen. Ich bleibe hier. Sie weigerte sich, in den Bus einzusteigen. Schließlich wurden der Vater und der Busfahrer ungeduldig. Er warf sie mit Zeynep in ihrem Arm in den Bus. Mit den Fäusten schlug sie gegen das hintere Fenster des Busses, während ihre Familie nur weinend dem davonfahrenden Bus hinterher winkte. Das werde ich niemals vergessen, sagte Jahre später ihre Tante. Wie du weinend gegen die Fenster des Busses geschlagen hast.

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Umay hatte gesagt, die Häuser hier seien schön. Sie sah aber nur Grau in Grau, Braun in Braun, Matsch in Matsch, Dreck in Dreck.

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Jetzt kommt er nach Hause, dachte sie, als sie vom Weiten das Fahrradlicht sah. Doch das Fahrrad fuhr weiter. So ging es eine Stunde lang. Sie saß am Fenster in der dunklen Wohnung, Zeynep schlief schon, und glaubte bei jedem ankommendem Licht von neuem, dass ihr Mann endlich nach Hause kam. Irgendwann vergrub sie ihr Gesicht in ihre Hände und fing an zu weinen.

Das Licht wurde angeschaltet. Ein verschlafenes Kind blickte sie an. Es war der Junge von dem befreundeten Ehepaar, das im Zimmer oben schlief. Es wollte sich aus der Küche Wasser holen. Doch als er sie weinend am Fenster sah, ging er wieder stumm nach oben. Kurze Zeit später kam seine Mutter im Nachthemd herunter. Warum weinst du denn? Was ist passiert? Sie sagte, dass er immer noch nicht von der Arbeit zurück sei. Dass ihm bestimmt etwas zugestoßen sei. Sie lachte nur und sagte, dass sie sich keine Sorgen machen soll. Er würde bestimmt jeden Augenblick kommen. Doch sie hörte nicht auf zu weinen. Die Freundin weckte ihren Mann. Er zog sich an und machte sich auf den Weg. Es schien, als wüsste er, wo er steckte. Kurze Zeit später kam er mit ihm wieder. Er musste sich am Türrahmen festhalten.

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Am Anfang wusste sie nie, was sie kochen sollte. Die Gemüseauswahl in diesem Land war scheußlich. Bis der Gemüsemann in seinem Wagen die ersten Auberginen hatte, dauert es eine Weile. Solange aß sie immer Brot mit Rama. Margarine war das erste, was sie in Deutschland gegessen und geschätzt hatte. Seitdem war immer genug Rama im Haus, sogar als Zeynep zur Universität ging.

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Inzwischen hatten sie eine eigene Wohnung. Zeynep hatte zwei weitere Schwestern bekommen, mit denen sie flüsternd einen Unsinn nach dem anderen ausheckte. Auch hier flogen Schuhe regelmäßig. Entweder der schwere, schwarze Männerschuh des Vaters. Oder aber der Hausschuh mit dem Absatz. Den warf sie ihren Kindern immer entgegen, wenn diese lachend um den Tisch herum rannten. Sie waren zu schnell für sie, sie konnte sie nicht schnappen. Also warf sie ihren Schuh auf sie. Irgendwer würde schon getroffen werden und zu weinen anfangen.

Weißt du noch, als du uns mit deinem Schuh gejagt hast?, fragte Zeynep sie irgendwann, als sie alt genug war, solche Fragen zu stellen. Sie war auch alt geworden und milder, genau wie ihr Vater. Warum hast du das getan? Warum hast du uns geschlagen? Ich habe es nicht anders gelernt, sagte sie nur. Ich dachte, so sei es richtig. Du glaubtest wirklich, dass es richtig sei, seine Kinder zu schlagen?, fragte Zeynep. Was stimmte denn bloß nicht mit dir? Sie schwieg.

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Als die Zechen geschlossen wurden und er frühzeitig in Rente gehen musste, als die Diagnose kam, dass er Diabetes hat, als die Nachricht kam, dass seine Mutter gestorben war, waren die einzigen Male, dass sie sah, wie er sein Gesicht in den Händen vergraben und geweint hatte.

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Im Grunde hielt sie hier nichts mehr zurück. Zeynep war Professorin, war verheiratet und erwartete ihr erstes Kind. Auch die anderen Mädchen waren schon erwachsen und bauten ihre eigenen Nester.

Sie waren alt. Er war gelangweilt und starrte nur stundenlang in den bis zur späten Stunde flackernden Fernseher. Du hast geweint, hast gegen die Scheiben geschlagen. Du wolltest nie hier hin, sagte er. Aber meine Kinder sind hier. Und unser erstes Enkelkind kommt bald zur Welt. Wir müssen hier bleiben. Dann gehe ich eben alleine zurück, sagte er verbittert. Aber auch er blieb. Sie blieben beide und verbrachten die Sommermonate über in der Heimat. Das werde ich nie vergessen, wie du mit den Fäusten gegen die Fensterscheiben geschlagen hast, sagte Umay, während sie ihr schmerzendes Knie mit den Händen rieb. Die Tante war schon tot. Jemand anderes musste diese Geschichte erzählen.

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