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Rezension: Mr. Turner – Meister des Lichts

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     von Frau Fuchs

Der böse Mann

Mister Joseph Mallord William Turner war dieser eine Künstler, der im 19. Jahrhundert lebte und werkte. Wissen Sie? Umgeben von romantischer Sehnsucht und Frühindustrialisierung war er einer ambivalenten Weltauffassung ausgesetzt: Technischer Fortschrittsglaube und eine soziale Unfähigkeit jenen Fortschritt gesellschaftlich angemessen zu verarbeiten. Welch Kontrast, welch gesellschaftliche Zerrissenheit er doch miterlebte und künstlerisch verarbeitete. Wer würde seine eindrucksvolle Art der maritimen Malerei missen wollen?

Schiffe als Sinnbilder einer Sehnsucht, die nur mit dem Pinsel darzustellen war

Ein von der Natur mit dem richtigen Augenlicht und der richtigen Wahrnehmung beschenkter Mann, der sich in den südlichen Küstenörtchen des sich urbanisierenden Englands bewegte, sich mit seiner Kunst selbst finanzierte wie eine Vorform des Arbeitskraftunternehmers, seine Studienreisen zum europäischen Festland unternahm und Bilder imaginär, für die Fantasie sammelte. Ein Vorbote des Impressionismus und deshalb auf seine Weise sehr avantgardistisch. Aber was war das für ein Mann? Was war das für ein Mensch insbesondere im Kontext seiner Zeit?

Mike Leigh fängt genau dieses historische Moment, genau diesen spezifischen Bias der Zeit, diese besondere Farbgebung dieser Gesellschaft, die gerade auf dem Weg dahin ist, die Natur endgültig zu bezwingen, in seinem Film „Mr. Turner – Meister des Lichts“ ein. Mit langen aber nicht langatmigen Imaginationen finden die Zuschauer*innen Zugang zu Turners Kunst, indem sie beim Zusehen lernen, die Welt durch seine Augen wahrzunehmen, indem er es im Zusehen lernt nachzuempfinden Gesehenes in malerische Energie zu transformieren. Ein großes künstlerisches Handwerk, wenn man mal ganz von der Spucke absieht, die er seinen Farben bei Bedarf untermischt. Auch lernt der kunst- und geschichtsaffine Kinobesucher*innen Turners derb wahnhaftes Auftreten innerhalb der Royal Academy und deren internen Habitus kennen. Das zum zivilen Leben Turners. Aber so sehr legt Leigh nicht den primären Fokus auf die beruflichen Stellschrauben dieses Kunstschaffenden, laufen doch alle geschäftlichen und organisatorischen Dinge so nebenher. Der Alltag eines Künstlers im 19. Jahrhundert, das ist die subtile Grundmelodie, die Leigh imposant und in voller Breite spielt und beibehält.

Ein garstiger, provinzieller Primitivling

Jedoch legt er einen viel prägenderen filmischen Rhythmus über dieses bildmelodische Gerüst: Die Gefühlswelt eines garstigen, provinziellen und auch traumatisierten Primitivlings, der ein großes Problem mit Bestimmer-Frauen hat, was sich weniger chauvinistisch als vielmehr naiv und bestialisch in seinen Umgangsformen widerspiegelt. Aber woher kommt dieses Vielfräßige, dieses anfallartig animalisch Verlangende, wenn nicht von den patriarchalen gesellschaftlichen Strukturen?

Seine Geschichte wäre sicherlich gefundenes Fressen für die systemische Familientherapie, denn seine Gleichgültigkeit zu Frauen erscheint als Relikt einer Kindheit mit einer psychisch schwerkranken Mutter, vor der ihm sein sehr zugewandter und engagierter Vater Schutz gewahr. Und auch er war es, mit dem er sich im Erwachsenenalter umgab, sein Vater als Mitarbeiter in seinem Atelier, sein Vater als bester Freund und nebendran und verschwiegen, im Hintergrund verschwimmend, Turners Frauen unterschiedlichen Naturells. Da sei die rigide Verflossene genannt, mit der er zwei erwachsene Töchter hat, welche er trotz tragischem Tod der einen weiterhin schier emotionslos missachtet. Als Kontrast begleitet ihn im Haushalt die Dienstmagd, an deren Körper sich der Künstler dann und wann, wenn ihm gelüstet, rücksichtslos bedient. Sie ist die schicksalhafteste Figur des Films, lebt ein der Arbeit und Turner geopfertes unsinniges Leben in seinem Haus mit Galerie in London, wartet auf ihn, während er seine Reisen macht, wie ein geistloser Hund auf seinen Herrn. Die Frau ist gebrochen, schwer verhaltensgestört, was man an körperlichen Erscheinungen ablesen kann. Und schon bald verlässt er das Haus in London, zieht mit seiner späten Liebe, die zweifach verwitwete und genügsame wie herzliche Misses Booth in ein Haus in die Peripherie. Die Magd bleibt jedoch über sein zweites Leben uninformiert zurück im dreckigen London.

Das Tier und die Frauen

Turner meidet die Frauen, die ihn an seine Mutter erinnern: Die Lauten, die Steuernden. Da wird er ganz klein und hilflos und brummt genervt vor sich hin. Er schaltet auf stur. Die unsichtbaren Frauen, die zu jener Zeit wohl die Mehrheit der weiblichen Population ausmachte, jene, für die die gesellschaftlichen Strukturen nicht viel mehr als eine Bedienstetenstelle und eine warme Suppe bereit hielt, an denen bediente er sich, wie es nun einmal Gang und Gäbe war. Die Magd repräsentiert den menschenverachtenden Umgang mit einer menschlichen Spezies, die sozial in etwa so wie niederes Getier positioniert wurde. Dabei war Turner wahrlich fähig zu einer ebenbürtigen Liebesbeziehung: Diese Wärme, dies‘ Wohlgefühl, das findet er bei der lebenserfahrenen Misses Booth, die ihn bis zu seinem Tod nach schwerer Erkrankung begleitet.

Man bekommt den Eindruck, es hätte zu Turners Lebzeiten Kameras gegeben, die jene historisch realistische Fülle an Bildern einfing, so authentisch wirkt neben den Landschafts- und Interieurszenen auch die Rollenauslebung des Timothy Spalls und man gerät letztlich zu der Einsicht: Turner war kein böser Mann, er war bloß ein Mann, ein Mensch, ja, ein Kind seiner Zeit, dem es gelang sich weitestgehend freizuschaufeln von den sozialen Fesseln der frühen Moderne, des kapitalistischen Ausbeutungsstrudels. Deshalb wurde Turner ja Künstler.

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