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Wer schnell hilft, hilft doppelt

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Von Chiara Fabri

 

Auf der Suche nach Kinderbüchern für […], entdeckte ich auf dem Dachboden der Familie ein Schmuckstück aus den 1950er Jahre. Fremde Gäste am Schilfsee ist ein von Hans Riedel gedachtes und illustriertes Tiermärchen, gestaltet von Annelies Jaschonek und Peter Moosdorf, frei überarbeitet von Karl Nietzsche und im Verlag Karl Nietzsche, Niederwiesa erschienen. Ein Verlag, den es wohl seit spätestens der Wende nicht mehr geben wird. Zu finden ist dieses Kinderbuch noch mit Glück bei der Online Plattform für Antiquitäten ZVAB.

fremde gäste

Die Geschichte steigt sogleich bei der Ankunft einer flüchtenden Froschfamilie an einem See ein, deren Zeuge ein Mausevater wird. Das Blut stockt ihm, sein Herz droht, nicht weiter zu schlagen, ob der Furcht dieser Fremden auf dem Floß. Fremde mit großen hervorstehenden Augen und breitem Mund; so ganz anders ausschauend, als gewohnt. Und so gar nicht aus der Region stammend. Am Ufer angekommen, legt sich die Froschfamilie erschöpft zur Ruhe, der Mäuserich eilt heim, um voller Sorge von dem Schrecklichen und seiner Sippe zu berichten. Hastig, ohne ausführliche Berichterstattung, sondern gleich mit beängstigendem Urteil ruft er seine Frau an, ihm zu folgen, die Nachbarn vor Fremden zu warnen, die entsetzlich anzusehen seien. Die Mausefrau wollte zwar mehr erfahren, fragt aber nicht, sondern folgt sogleich, um bei den Eheleuten Maulwurf auf- und Alarm zu schlagen. Der Herr Maulwurf fühlt sich durch das Hereinstürzen unangenehm in seiner Ruhe gestört. Doch nachdem er von der Gefahr am See erfährt, reckt er sich hoch auf: „Hier mußte er eingreifen. Endlich konnte er einmal zeigen, was für ein Kerl er war.“ Der allabendliche Besucher des Ehemaulwurfpaares, Dorfschulze Hirschkäfer, reagiert. Lässt die aufbrausenden Herren die Nachbarschaft zusammentrommeln und gibt an, er wolle nach dem Rechten sehen und dann berichten. Zwar vorsichtig, doch aufmerksam begibt sich der Hirschkäfer zu den Geflüchteten, macht sich ein Gesamtbild der Situation vor Ort und spricht mit dem Froschvater. Er lässt sich deren Geschichte erzählen und begibt sich zurück zu den Dorfansässigen. Derweil Herr Maulwurf und der Mausevater, die Nachbarn mitunter aus den Betten holen, weil Gefahr bestünde. Die Unsicherheit entdeckt unterschwellige Antipathien, sodass die Elster, die Diebstahl durch die Fremden befürchtet, sich sagen lassen muss, dass sie es ja gerade nötig habe, wo sie es selbst mit dem Eigentum anderer nicht so genau nähme.

Der Dorfschulze Hirschkäfer kommt zur Nachbarschaft und berichtet die Geschichte der Flüchtenden.

Nicht nacherzählt und ohne Übertreibung, wie er es ansonsten angeblich gern mit seinen eigenen Anekdoten treibt. Ohne Schnörkelei aus der Ich-Perspektive, so erzählt er nach: „Wir wohnten am Rande eines kleinen Teiches, weit von hier. (…) Böse Buben hatten mit Steinen nach ihnen geworfen, und nur durch Glück und Geschick waren sie am Leben geblieben. Eine schreckliche Angst steckte in ihren Gliedern. (…) Viele Tage dauerte es, bis wir an das Ende des Baches kamen und noch einmal zwei Tage, bis ich einen Weg durch das dichte Schilf fand. Nun sind wir hier und bitten euch, uns Zuflucht zu gewähren.“ Und damit war es um die Dorfansässigen geschehen. Kein Gedanke mehr an Gefahr und schlechten Fremden. Die Neuen brauchen Hilfe und Unterstützung und das sogleich. Mit Lebensmittel und dem Angebot der Notunterkunft für die Nacht, begeben sich alle gemeinsam zur erschöpften Froschfamilie. Der Froschmann erwähnt, er wolle gleich am folgenden Tag beginnen, ein neues Haus zu bauen und so war es am nächsten Tag ein „Gewimmel am Strande. Das hämmerte und sägte, schleppte und zerrte, pochte und klopfte. Jeder gab sein Bestes, als sei der Bau sein eigener. So laut war es hier lange nicht zugegangen.“

Ein Fest zur Fertigstellung des Hauses wurde mit allesamt gefeiert, außer der Frau Elster, die sich zu ihrer Cousine zurückzog und murrte, weil sie Fremden per se nicht trauen will. Ein Kinderunfall im See, wo der Froschmann als Einziger hat helfen und das Leben retten können, ließ die neuen Nachbarn hochleben und den See nach dem Retter benennen. „So waren alle gute Freunde geworden und lebten noch lange glücklich und zufrieden miteinander.“

 

Nicht schlecht…

Dieses Kinderbuch über eine flüchtende Familie, von der aus zu Beginn Gefahr und Diebstahl erwartet und ihr dann großzügige Hilfe angeboten wird, um in der neuen Heimat anzukommen und sie zur eigenen zu machen, könnte ein Werk sein, dass angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte, angesichts der schürenden vorurteilsbehafteten Ängste der Ansässigen, als Aufklärungs- und Lehrmaterial für interkulturelle Bildung und Aufklärungsbemühungen in Sachen Furcht vor Flüchtenden genutzt wird.

Es ist ein Tiermärchen, dass sich hervorragend eignet, um in Kindergärten und Freizeiträume vor/gelesen zu werden, die sich in unmittelbarer und/oder ferner Nähe von Flüchtlingsquartieren der BRD befinden und jene Bürger*innen der Klein-, Mittel- und Großstädten auf die vermeintlichen Herausforderungen der Flüchtlingsaufnahme zu sensibilisieren. Es konzentriert sich bestens auf den allerwichtigsten Aspekt in der Begegnung mit Fremden:  Gehe zu dir fremden Person und höre dir dessen Geschichte an. Jede*r Flüchtende hat eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

 

, aber…

Doch ich darf es nicht unerwähnt lassen, dass die Migrationserzählung hier bedauerlicherweise eine patriachal orientierte ist. So ist der Froschvater jener, der die Familie aus der Gefahr in die neue Sicherheit überführt und ist es der Froschvater, der mit dem Dorfschulzen-Käfer und den Seebewohner*innen spricht. Es der Froschvater allein, der das neue Wohnhaus bauen will und auch gemeinsam mit den Seebewohner*innen baut. Und es ist der Froschvater, der das Maulwurfkind vor dem Ertrinken rettet und nach dem der See benannt wird und, der die letzten Festgäste zum Ende der Geschichte verabschiedet. Die Froschfrau kommt textlich nur vor, als der Froschvater von der schrecklichen Angst in der Heimat berichtet und wie er seine Familie einpackte uns floh. Bildlich sieht n die Froschmutter ein einziges Mal zu Beginn der Geschichte. Und zwar weinend, eines der Froschkinder im Arm haltend auf dem Floß, welches vom Froschvater geführt wird. Und in einer anschließenden kleineren schwarzweiß-Zeichnung, wie sie vom Floß auf das Festland geht. In beiden Fällen ist sie Familienmutter und Ehefrau. Ansonsten ist sie in der Geschichte unsichtbar und kommt nicht einmal zum Happy End vor – weder textlich noch bildlich. Es ist zum Haare raufen, zum Fauchen und ich ärgere mich ungemein darüber, dass dieses Kinderbuch einen so kritischen Knick innehat!

Das Buch bringt mich ernstlich in eine Zwickmühle. In ein Dilemma, das sich schnell damit lösen ließe, mich dazu zu entscheiden, das Kinderbuch abzulehnen und hier partout nicht zu erwähnen. Und es auch nie vorzulesen. Will n meinen. Nach kurzer doch intensiver Überlegung aber, möchte ich das Kinderbuch weiterhin empfehlen. Warum? Aufgrund folgender Voraussetzung und nur, WENN folgende Voraussetzungen umgesetzt werden:

Kinder lassen sich in der Regel nicht mit einem einzelnen Buch abspeisen, also kann n noch schnell und getrost zu Astrid Lindgren greifen und ausbügeln, was Nietzsche kräuseln ließe.

Auch ist das gemeinsame Buchlesen ein Akt im Prozess, ist das Lesen ein Prozess selbst und hinzu ein Dialog zwischen zwei und mehr. Und was hielte davon ab, nach dem Lesen zu fragen: Und wo ist die Froschmutter? – Was, die kommt gar nicht mehr vor? – Wie gemein, wer hat sich das denn ausgedacht? – Was meinst du/meint ihr, wo ist die Froschmutter und was macht sie und was sagt sie? – Lasst uns eine weitere Perspektive einnehmen und die Welt erweitern. Schreiben und bemalen wir bunt neue Seiten!

 

Sodele und Upsala!

 

 „Gelobt sei dieses Ufer, 

möge es uns wohl aufnehmen 

und uns Glück bringen.“

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