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Ein ungemütlicher Jahresrückblick

Ein ungemütlicher Jahresrückblick published on Keine Kommentare zu Ein ungemütlicher Jahresrückblick

von Schraubwalde

Hinweis: In diesem Text werden von der Autorin Situationen beschrieben, in denen sie oder Freund*innen sexuell belästigt wurden.

Es ist der erste Januar 2016, in den ersten Stunden des neuen Jahres. Etwas beduselt vom Sekt sitze ich mit ein paar Freundinnen vor dem Fernseher und zappe durchs Programm. Wir bleiben bei einer Volksmusikparty hängen und amüsieren uns über die Show. Das Lachen bleibt uns allen im Halse stecken, als ein Mann namens G.G. Anderson in die Halle einzieht, laut singend: „Nein heißt ja, wenn man lächelt so wie du“, um ihn herum die klatschende Menge.

Illustration eines Frauenkopfs. Sie hat pinke Haare und macht eine Kaugummiblase in der No steht.
Illustration von Patricia Tarczynski

Die Tage nach diesem Jahreswechsel sind durchzogen von den Nachrichten über sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof. Die neue alte Debatte über sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen kann sich das Aufmerksamkeitsmonopol nicht erhalten, bieten doch rassistische Perspektiven die viel leichteren Lösungen, getreu dem Motto: Sexismus ist kein deutsches Problem – war nie so, ist nicht so, wird nie so sein, lalala. Wer glaubt, die erste Geschichte habe nichts mit der zweiten Geschichte zu tun, der ist eingeladen, diesen Standpunkt zu überdenken.

Noch eine Geschichte. Meine Freundin erzählt mir in diesen Tagen von einem Gespräch mit einem Jungen aus der Jugendeinrichtung, in der sie arbeitet. Der Junge habe ihr von einem sexistischen Post auf Facebook erzählt und was dieser in ihm auslöste. Zuerst habe er ihn witzig gefunden und habe überlegt ihn zu teilen. Dann habe er sich vorgestellt, wie er den Beitrag fände, wenn er ein Mädchen wäre und wie anders die Welt im Allgemeinen für ihn aussehen würde. Diese Gedanken hätten viel mit ihm gemacht, sagte er. Er fragte meine Freundin, ob sie das nicht voll scheiße fände, mit solchen Kommentaren leben zu müssen. Diese Reaktion fand ich sehr spannend und weiter gedacht, als ich es von cis-männlichen Menschen gewohnt bin. Immer wieder treffe ich auf Menschen, die sich mit Sexismus in der Gesellschaft noch nie beschäftigt haben, die vor der Benennung zurückschrecken, Diskriminierung negieren und die Scheiße immer wieder relativieren wollen. Ich hatte die Hoffnung, dass es manchmal einfach nur an Empathie und an Beispielen fehlt – manchmal ist die rosa Brille aus Papier. Die Erfahrung hat mich mehrere Male eines Besseren belehrt – manchmal ist sie eben auch aus Stahl.

Dennoch beschloss ich, ein Jahr lang jedes übergriffige Verhalten durch unbekannte Personen in meinem Leben zu dokumentieren, das sich auf mein zugeschriebenes Geschlecht oder das meiner Freund*innen bezog. Ich schildere Beispiele, in denen mir bzw. uns unbekannte Personen durch ihr direktes, wie indirektes Verhalten unseren Lebensraum einschränkten oder unbegehbar machten – auf der Straße, wie im Club. Vielleicht liest eine der Personen, die Sexismus wie diesen nicht als Problem wahrnehmen. Versucht es mal mit meinem 2016 und versucht es mal mit Empathie.

DISCLAIMER
1. Ausgenommen sind
– Fälle, bei denen ich mir nicht sicher war, ob ich gemeint war (oder bspw. Meine Hündin).
– Fälle, in die ich nicht involviert war oder bei denen ich nicht direkt anwesend war.
– Aussagen im Kontext von Diskussionen und Ähnliches
– jegliche Formen der respektvollen Kontaktsuche, d’oh!

2. Ich schildere ausschließlich meine Erfahrungen und nur die aus dem Jahr 2016. Ich bin weiß, ich bin Mitte 20, cisgender , able-bodied und bewege mich in ziemlich privilegierten Räumen . Bedenkt, dass dieses Problem Menschen unterschiedlicher intersektioneller Umstände unterschiedlich trifft. Jeder Mensch hat seine*ihre persönlichen Grenzen. Diese können von Situation zu Situation unterschiedlich sein.

07.01.2016 Ich gehe durch den Bahnhof, hinter mir läuft eine Gruppe von Männern. Ich höre, wie sie Kussgeräusche machen.

08.01.2016 Meine Freundin und ich kommen gerade aus einer Disco, es ist ungefähr halb drei. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite kommen uns zwei Männer entgegen. Sie fangen an Kussgeräusche zu machen. Als wir uns lauthals beschweren, werden sie lauter und obszöner.

05.02.2016 Wir gehen feiern. Ein betrunkener Typ grabscht eine von uns an. Wir positionieren uns so, dass er nicht mehr an sie rankommt. Dann fängt er an, eine andere von uns anzutanzen. Wir sagen ihm, er soll gehen, hören auf zu tanzen. Er reagiert nicht und macht weiter. Eine von uns nimmt ihn zur Seite, spricht mit ihm, schickt ihn weg. Er reagiert nicht. Plötzlich spüre ich seine Hand an meiner Brust, ich drehe mich um und schubse ihn weg. Er kommt zurück und tanzt uns weiter an. Eine von uns packt ihn am Arm, will ihn nach draußen bringen, als er stürzt und sie mit hinunter zieht. Irgendwann sind wir ihn endlich los.

26.02.2016 Wir sind mit ein paar Freundinnen feiern. Es ist schon ziemlich spät und merklich leer, als der DJ einen beliebten Lokalschlager spielt und sich alle gegenseitig auf die Schultern lehnen, einen Kreis formen und zur Musik mitwippen. Der Fremde neben mir jedoch hält sich nicht an meiner Hüfte, sondern an meiner Brust fest, obwohl ich mit aller Kraft seinen Arm nach unten dränge. Eine Freundin sieht meinen angewiderten Blick und tauscht mit mir. Kurz darauf raunt sie mir zu „Jetzt versucht er das Gleiche bei mir“. Wir verlassen den Kreis. Auf dem Weg nach Hause kommen uns drei Männer entgegen und machen Kussgeräusche.

04.04.2016 Meine Freundin und ich gehen durch die Stadt. Ein Mann auf einem Fahrrad kommt uns entgegen, fährt sehr nah an uns vorbei und lässt währenddessen grölend und singend Sprüche los.

06.04.2016 Wir wollen uns etwas von einem Schnellimbiss holen. Ich gehe hinein, meine Freundin wartet währenddessen mit unserer Hündin draußen. Auf unsere Bestellung wartend, beobachte ich, wie sie immer wieder von einem Mann angesprochen wird. Im Nachhinein erzählt sie mir, dass er sie überreden wollte, mit ihm nach Hause zu gehen und nur durch deswegen aufgab, weil unsere Hündin unruhig wurde und ihn das nervös werden ließ.

04.05.2016 Wir gehen feiern. Als wir über einen schmalen Gang zwischen zwei Floors gehen, kommen uns zwei Männer entgegen. Der erste macht keine Anstalten, uns durchzulassen, steht vor mir und mustert mich mit geneigtem Kopf. Etwas perplex raune ich „Nicht dein Ernst, oder? Ist der Gang so eng?“ Er stellt sich mir breitbeinig in den Weg und sagt „Uh, Chica!“. Ich stehe da, schaue nur perplex an ihm vorbei und sage „Was zur Hölle?“, als mich meine Freundin von hinten weiterschiebt und er uns endlich durchlässt.
Eine Freundin mit androgynem Aussehen tanzt ausgelassen zu Hip Hop. Ich bemerke, wie sich eine Gruppe Männer aus näherer Distanz über sie lustig macht und sie von oben bis unten mustert. Unter dem Johlen der anderen geht einer zu ihr hin und beugt sich auf ihre Augenhöhe nieder. Er tanzt nun aggressiv und höhnisch, immer wieder ihren Blick suchend. Als ich mich dazustelle sie im Tanzen abschirme, haut er endlich ab.

08.05.2016 Meine Freundin und ich haben uns bei einer Tankstelle ein Eis geholt und sitzen in der Sonne und genießen es. Ein Transporter mit zwei Insassen bleibt auf unserer Höhe stehen. Der Beifahrer kurbelt das Fenster runter und fragt, ob wir uns nicht schon mal gesehen hätten und wir einsteigen wollten. Wir fragen, was zum Teufel er will. Mit einem „Ja, komm, vergiss es“ wendet er sich ab, der Fahrer gibt Gas und die beiden fahren grölend von dannen.

23.07.2016 Wir sind auf einem Parkplatz und packen gerade unsere Sachen ins Auto. Ein Typ steht währenddessen neben uns. Er spricht mich an. „Hey. Deine Schwester ist aber eine brünette Schönheit.“ Ich ignoriere ihn und er labert weiter. Als wir ausparken, macht er kaum Anstalten, dem Auto auszuweichen und schlendert schließlich lässig und extra langsam davon.

21.09.2016 Meine Freundin und ich gehen händchenhaltend durch die Stadt. Als wir an einer Gruppe Männer vorbeikommen rufen sie uns hinterher und machen Kussgeräusche.

26.09.2016 Ich parke auf einem Supermarktparkplatz neben einem Kleinbus. Als ich aussteige, steht mir gegenüber ein Mann, der seinen Bus von der Seite bepackt. Er lässt mich durch den engen Raum zwischen meinem Auto und sich durchgehen, blickt mich dabei an und macht Schnalzgeräusche.

23.10.2016 Ich verreise. Mit meinem Koffer stehe ich gegen 4 Uhr morgens an der Straße, während meine Freundin das Auto holt. Mehrere Autos fahren an mir vorbei, eines hält neben mir an. Der Mann im Auto blickt mich, über den Sitz gelehnt, an und parkt währenddessen direkt neben mir ein. Ich umklammere mein Handy. Er steigt aus dem Wagen und geht auf mich zu, in dem Moment kommt meine Freundin in unserem Auto angefahren. Er sieht, dass ich im Begriff bin, dort einzusteigen und dreht auf dem Absatz um kehrt zu seinem Fahrzeug zurück.

06.12.2016 Ich stehe auf einer Rolltreppe eines Einkaufszentrums. Plötzlich spüre ich, wie mich jemand am Gesäß anfasst. Der Mann entschuldigt sich und sagt, er wäre gestolpert.

Danke für’s Interesse. Wer nach dem Lesen denkt, das sei allein mein Problem und ich müsste lernen damit klarzukommen kann seine rosa Brille behalten. (Für’s Erste.)

 

Glossar

Cis = Das Präfix „cis“ beschreibt die Übereinstimmung des bei der Geburt zugeschriebenen Geschlechts mit dem selbst zugeschriebenen Geschlecht, im Gegenteil zu trans*

Cisgender = Das Geschlecht, das ich mir selbst zuschreibe, stimmt mit dem mir bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht überein; ich bin nicht trans*

able-bodied = Ich bin nicht körperlich beeinträchtigt, brauche eine Geh- oder Sehhilfe oder habe eine Krankheit, die mir dauerhaft die Möglichkeit auszugehen erschwert oder versagt

privilegierte Räume = Beispiele: Ich muss wegen meiner Finanzen nicht in Ämtern verharren; ich habe ein Auto und bin nicht auf den Nahverkehr angewiesen; ich habe das Wissen um Schutzräume

Intersektionalität = Intersektionalität beschreibt das Zusammenspiel verschiedener Diskriminierungsformen in der Gesellschaft. Street Harassment zum Beispiel trifft mich zwar als Frau, aber ich bin anders betroffen als jemand, die auf eine Gehhilfe angewiesen ist, und sich im Zweifelsfall nicht so schnell von der Person wegbewegen kann

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