von Silvana Schmidt
Ein Buch namens „Vergewaltigung“ – das ist schon eine Ansage, oder? Auch bei der Suche nach einem Verlag zur Veröffentlichung stieß Mithu M. Sanyal auf dieses Problem, wie sie bei einer Buchvorstellung im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse erzählte: Als die Verlage vom Thema ihres Projektes erfuhren sagten sie reihenweise ab – nur Nautilus erklärte sich bereit für die Veröffentlichung eines Buches mit einem so „reißerischen“ Titel. Zum Glück hat es geklappt! Lange hatte ich nach der Beendigung eines Buches nicht mehr ein so drängendes Verlangen danach, die Wichtigkeit und Notwendigkeit seiner Existenz und seiner Verbreitung in die Welt hinauszuschreien!
Wie im Vorwort bereits erwähnt wird, überschlugen sich die Ereignisse die mit Vergewaltigungsdiskursen zu tun haben in den letzten Monaten leider geradezu, sodass Sanyal auf viele aktuelle Themen eingehen konnte und dies auch tat: Silvester 2015/16 in Köln, der Kachelmann-Prozess, der Prozess um Gina-Lisa Lohfink, #ausnahmslos und #aufschrei – auf all diese Aspekte bezieht sich die Autorin an der ein oder anderen Stelle.
Es ist ein unbequemes Buch, das viele Positionen hinterfragt – ganz gleich, ob sie eher linkspolitischen oder rechtspopulären, gewissen feministischen oder antifeministischen Lagern zuzuordnen sind. Dabei begibt sich Sanyal auf eine immer wieder nachfragende und entlarvende Suche danach, wie in unserer Gesellschaft eigentlich über Vergewaltigung gesprochen wird. Was verstehen wir darunter? Was sagen gesellschaftliche Debatten zu Vergewaltigung eigentlich über unser Geschlechterverständnis aus? Was über unser Opfer- und unser Täterbild (Und warum gendern* wir ausgerechnet hier so selten)?
Es gibt nicht die Wahrheit, die eine autoritative Geschichte über Vergewaltigung, sondern immer viele Wahrheiten und viele Blickwinkel. Es ging mir darum, Fenster zu öffnen und unterschiedliche Narrative hörbar zu machen, in dem Wissen, dass es – zum Glück – immer noch viel mehr zu sagen und zu reflektieren gibt. (169)
Sanyal holt zum Rundumschlag aus und analysiert historische, philosophische, psychologische, politische und soziologische Erklärungsmuster zum Thema Vergewaltigung. Hier nur einige Denkanstöße, die ich daraus mitnehmen konnte.
Vergewaltigung als gegendertes Verbrechen
Betroffen von Vergewaltigung; das sind Frauen. Vergewaltiger; das sind Männer. Von diesen gesellschaftlichen Annahmen ausgehend werden Urteile getroffen und Entscheidungen gefällt – selbst unsere Sprache (verwenden schließlich auch viele ansonsten streng gendergerecht sprechende Feminist*innen bei der Beschreibung vergewaltigender Menschen nur die männliche Form) zeigt, dass das Bild eines Mannes, der durch eine Frau vergewaltigt wird nicht in unseren Bereich des Sag- und Denkbaren gehört. Fakt ist aber: Männer werden vergewaltigt. Diese begrenzten Felder, innerhalb derer wir über Vergewaltigung sprechen zeigen uns demnach nicht die „Realität“, sondern vor allem etwas über unser Verständnis von den Geschlechtern: Frauen sind nur als Opfer denkbar, Männer als Täter. Menschen, mit denen wir aufgrund eines offenbaren „Herausfallens“ aus dem binären heteronormativen System** so unsere Probleme haben werden beim Sprechen über Vergewaltigung gänzlich unsichtbar. Das gleiche gilt für Täterinnen und männliche Opfer. Sanyal zeigt auf, wie gefährlich eine Pauschalisierung aller Männer als potentielle Täter und aller Frauen als unbedingt zu schützende, ständig zur Vorsicht und Angst aufgerufene wehrlose Opfer sich gestaltet:
Vergewaltigung gendert uns, indem sie uns beibringt, wie wir uns unserem Geschlecht entsprechend zu verhalten haben, wie die Geschlechter zueinander stehen und wie viele Geschlechter es gibt: nämlich zwei. Ende der Diskussion. (128)
In der Folge werden nicht nur gewisse Handlungen im öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet, sondern geschlechtliche Sozialisationsprozesse orientieren sich immer stärker entlang einer Linie, die Frauen als verletzlich und wehrlos, Männer hingegen als aggressiv und emotionslos kategorisiert. Sanyal bezieht sich auf die Phänomene der toxic masculinity*** und eines geschlechtsspezifischen Jäger-Beute-Verständnisses und arbeitet sehr treffend heraus:
In dem Diskurs um sexuelle Gewalt ist es […] wichtig, der Verletzlichkeit von allen Geschlechtern Platz einzuräumen. Nicht zuletzt, weil Menschen, die ihre eigenen Gefühle zulassen dürfen, diese leichter bei anderen wahrnehmen können. Wenn Weiblichkeit nicht essenziell ist, dann kann auch Männlichkeit nicht essenziell sein. (137)
Die Sache mit der Ehre
Ehre ist ein wichtiger Bestandteil der Debatten, die wir über Vergewaltigung führen. Sanyal skizziert, wie das Konstrukt der Ehre dazu verwendet wird, genau zu definieren, welchen Vergewaltigungen aufgrund welcher Merkmale das Siegel „echt“ verliehen wird und welchen nicht, wer als „vergewaltigbar“ gilt und wer nicht und was genau den Akt der Vergewaltigung von anderen gewaltvollen Taten unterscheidet. Ein wichtiges Stichwort an dieser Stelle ist Intersektionalität**** . Wie wurden und werden schwarze Männer im Rahmen des Sprechens über Vergewaltigung als Täter konstituiert, schwarze Frauen als „Opfer“ jedoch unsichtbar gemacht? Wie erfolgt eine symbolische Aufladung des Themas Vergewaltigung, die unter anderem zur Folge hat, dass den Worten einer vergewaltigten Person nur dann Gehör geschenkt wird, wenn sie psychisch und physisch zusammenbricht und/oder zum Tatzeitpunkt noch „Jungfrau“ war? Was hat der Mythos der Jungfräulichkeit überhaupt mit dem Themenkomplex Vergewaltigung zu tun?
Diesen Fragen wird sich angenähert – neugierig aber sensibel und ohne die Erfahrungen von vergewaltigten Personen an irgendeiner Stelle zu verharmlosen oder zu negieren.
Und was ist mit den Vergewaltiger*innen?
Ein besonders sensibles Thema greift Sanyal im Kapitel „Ein Täter* ist ein Täter* ist ein Täter*?“ auf: Den Umgang mit Vergewaltiger(*inne)n. Denn so stark diverse Organisationen sich mit Kampagnen wie „Wir sollten Menschen nicht beibringen, nicht vergewaltigt zu werden, sondern nicht zu vergewaltigen“ auch für präventive Maßnahmen einsetzen, so stark scheint der Hass und die Ablehnung zu sein, wenn es einmal zu einer Tat gekommen ist. Sich des schmalen Grates ihres Argumentationsspielraumes durchaus bewusst gelingt es Sanyal hier sehr gut, ohne gefährliche Relativierungen die Frage aufzuwerfen, was das gesellschaftliche Unvermögen des Vergebens an dieser Stelle verursacht, nämlich ein Verschieben sexueller Gewalt in einen Bereich des Anderen, des bösen Fremden, das „normalen Menschen“ niemals passieren kann:
Das Problem mit dieser Drinnen/Draußen-Politik ist, dass sich darin niemand als Täter identifizieren wird, wenn es heißt: Vergewaltiger sind nicht wie wir. Oder anders ausgedrückt: Vergewaltiger sind nicht wir. (150)
Anhand des Umganges mit Vergewaltiger*innen identifiziert Sanyal also ein Problem, das sich sehr gut auf das Othering u.a. in der Berichterstattung zur Kölner Silvesternacht 15/16 übertragen lässt (was sie an anderer Stelle auch tut).
„Ja heißt ja!“
So der Titel des Nachwortes, in dem Sanyal sich besonders dem Gegenmodell von Vergewaltigung, dem Konsens, widmet. Die Fokussierung auf diesen Aspekt könne so zu einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung führen, die am Ende zu einer größeren Geschlechtergerechtigkeit beitragen könne.
Vergewaltigung ist und bleibt ein schwieriges, bedrückendes und äußerst komplexes Thema.
Um ganz ehrlich zu sein: Ich hatte vor dem Lesen ein flaues Gefühl im Magen und etwas Sorge um die Art, wie über dieses Thema geschrieben wird. Mithu M. Sanyal hat meiner Ansicht aber einen absolut angemessenen Ton getroffen, um sich der Thematik gleichermaßen respektvoll und fair anzunähern und verständlicher zu machen, warum das Sprechen und Denken über Vergewaltigung emotional und symbolisch so stark aufgeladen ist. Sie hat mit diesem bemerkenswerten Buch ein wichtiges Thema aus unterschiedlichen Perspektiven geöffnet – geöffnet für weiteres kontroverses Nachdenken über Vergewaltigung und geöffnet für Handlungsansätze, die unsere Gesellschaft zu einer gerechteren machen könnten.
„Vergewaltigung“ erschien im August 2016 bei Edition Nautilus (ISBN 978-3-96054-023-6 )
*„Gendern“ meint hier die Verwendung einer geschlechtergerechteren Sprache, z.B. durch die Verwendung des Binnen-I oder noch besser des Gaps (_) oder Stars (*). Sie dient dazu, nicht allein sich als männlich bzw. (im Falle des Binnen-I) nur sich als weiblich oder männlich identifizierende Menschen mitzudenken.
Damit ist ein auf zwei Geschlechter (nämlich „Mann“ und „Frau“) beschränktes System gemeint, das Heterosexualität als Norm setzt.
**Toxic masculinity beschreibt das patriarchale Zuschreibungssystem, das Männer automatisch mit aggressivem Verhalten, Emotionslosigkeit und Gewalt in Verbindung bringt und diese Annahmen auch auf Erziehungskonzepte etc. überträgt.
***Intersektionalität leitet sich vom englischen Wort intersection (=Straßenkreuzung) ab und ist in der Ge-schlechterforschung zu einem Schlüsselbegriff geworden. Thematisiert werden hier die Überkreuzungen sozialer Ungleichheitskategorien (z.B. Ethnizität, Geschlecht und Behinderung).
****Othering zeichnet sich in einer Gegenüberstellung des Bekannten und des Außenstehenden ab, wobei das „Wir“ dabei meistens positiv, das „Andere“ hingegen negativ eingeschätzt wird. Gesellschaftliche Probleme werden dabei auf bestimmte Gruppierungen abgewälzt und so zum Teil verleugnet. Im Falle der Kölner Silvesternacht 15/16 war beispielsweise immer wieder die Rede von „den Ausländern“, die „unsere Frauen“ sexuell belästigen – Aktionen wie #ausnahmslos warnten im Anschluss zu Recht vor diesem Vorgang.