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„Wir wollen Visionen!“ Interview mit Merle Groneweg

„Wir wollen Visionen!“ Interview mit Merle Groneweg published on Keine Kommentare zu „Wir wollen Visionen!“ Interview mit Merle Groneweg

Zum dritten Mal findet am 06.07. eine queere Filmnacht mit dem XPOSED International Queer Film Festival Berlin im atelier automatique in Bochum statt. Wir haben uns unterhalten und ich hatte Lust mehr über das Festival zu erfahren!

Johanna: Hallo Merle! Wer bist du und wie bist du zu XPOSED gestoßen?

Merle: Ich bin seit 2015 dabei. Damals habe ich in Berlin studiert und hatte Lust, bei Filmfestivals in der Stadt mitzuarbeiten. Bei XPOSED bin ich hängen geblieben, und seit letztem Jahr gehöre ich zu den Kurator*innen des Festivalprogramms. Mich begeistert es, an einer Schnittstelle zu arbeiten: Da ist die Liebe zum Film und zur Kunst, aber da ist auch der Wille, ein Community-Event zu gestalten, Queerness zu verhandeln und in gesellschaftliche Diskurse zu intervenieren.

[Bild: Festival-Direktor*innen Merle Groneweg und Bart Sammut beim XPOSED International Queer Film Festival Berlin 2018]

Johanna: Was bedeutet für dich „Queerness“?

Merle: Oh je, das ist eine offensichtliche und natürlich zentrale Frage – aber auch eine, die schwer zu beantworten ist. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ist ja bekanntlich „pervers“. Dem Schimpfwort wohnte und wohnt im Englischen eine geballte Kraft inne, und es war sicherlich auch ein Kraftakt für die damaligen Aktivist*innen, sich das Wort anzueignen. Diese Aneignung ermächtigt. Es geht um etwas Widerständiges, Rebellisches. Trotzdem ist schwer zu greifen, was Queerness, queer (sein) bedeutet. Aber das macht es ja auch aus, auch das „Widerständige“: Es geht um das Fluide; etwas, das sich engen Grenzen, Definitionen, Normen entzieht – nicht nur jene der sexuellen und geschlechtlichen Identität.
Ich verwende „queer“ durchaus gern als vagen Sammelbegriff, auch wenn es berechtigte Kritik daran gibt. Aber bei aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Positionen und Identitäten gibt es vielleicht doch einen gemeinsamen Nenner, eben „das Queere“. Das ist dann relational: Es steht immer in Abgrenzung zu etwas Anderem, zu Hetero-, Homo- , Cis- und Transnormativität, zu gängigen Vorstellungen von Beziehungen und Begehren, geschlechtlicher und sexueller Identität.

Aber was als „gängig“ und „akzeptiert“ gilt, verändert sich ja ständig. Gleichgeschlechtliche Beziehungen gelten heute im öffentlichen Diskurs als weitestgehend akzeptiert, Stichwort „Ehe für alle“. Das heißt zwar nicht, dass sie in allen Familien und gesellschaftlichen Strukturen als gleichwertig anerkannt sind. Aber es gibt ein öffentliches Sprechen darüber. Wie sieht es mit anderen Themen aus? Ich spüre sehr genau, in welchen Räumen (entspannt) über, sagen wir, HIV/Aids, Strap-Ons, Hormone, Darkrooms, Poly, Promiskuität, Drag, BDSM, Analsex und Operationen gesprochen wird, und in welchen nicht. Ist das Queere vielleicht dort zu finden, wo es ungemütlich wird? Und inwiefern will ich das vielleicht auch – dass es ungemütlich ist? Dass eine Praxis, ein Begehren, eine Lebensweise eben nicht einverleibt wird, sondern an Grenzen stößt? Das meinte ich vorhin, als ich sagte, „queer“ ist relational: Menschen werden immer nach neuen Grenzen, also Formen der Queerness suchen.

Johanna: Wer seid ihr vom XPOSED und wie seid ihr dazu gekommen, ein queeres Filmfestival zu machen?

Merle: Bartholomew Sammut hat das Festival 2006 gegründet – er ist ein absoluter Filmenthusiast, und er wollte eine Plattform für queere Filmemacher*innen schaffen. Der Fokus des Festivals lag damals auf experimentellen Kurzfilmen, und das ist auch immer noch eine Stärke unseres Programms. Das hat auch seine Gründe: Wir glauben, dass queerer Film nicht nur Film ist, der die Geschichten, Körper und Begehren von LSBTTIQA* zeigt. In dem neuen Sammelband „Queer Cinema“ von Dagmar Brunow und Simon Dickel wird das ganz fantastisch diskutiert. Queerer Film muss auch gängige Arten des filmischen Erzählens herausfordern, nach einer anderen Form suchen. Wie heißt es so schön: Jeder ästhetischen Form wohnt eine politische inne.

 

[Bild aus „WHO WILL FUCK DADDY“ von Lasse Långström ]


Johanna: Die Filme, die ich gesehen habe, waren mal verstörend, mal nachdenklich, dann sexuell aufgeladen und manchmal einfach wundervoll anrührend. Wie sucht ihr eure Filme aus? Nach was für Filmen haltet ihr Ausschau?

Merle: Das hast Du nun selbst sehr gut beschrieben – in erster Linie geht es natürlich um Filme, die eine Reaktion in uns hervorrufen, welcher Art auch immer. Wir wollen von Filmen überrascht und bewegt werden; sie können und sollen uns ekeln, provozieren, nerven; neue Perspektiven aufzeigen und uns ermutigen. Wir wollen Visionen! Und was wir nicht wollen, ist die hundertste Coming-Out-Story oder nervige Beziehungsdramen.

Johanna: Ihr scheut euch auch nicht schon mal sexuell explizite Filme aufzunehmen. Haben diese für euch eine besondere Bedeutung? Oder sind diese für euch einfach auch queere Filme?

Merle: Sex ist Teil des Lebens vieler Menschen. Ich könnte die Antwort hierbei belassen: Sex gehört halt zum Leben dazu, also haben wir auch Filme im Programm, die Sex zeigen. Aber klar, ich weiß auch, dass das Thema besondere Aufmerksamkeit genießt, sonst würdest du die Frage ja gar nicht erst stellen. Sex ist omnipräsent und zugleich ein Thema großer Verunsicherung, Stigmatisierung, Scham, Verletzung. Für alle Menschen, aber für Queers ganz besonders. Ein Freund erzählte mir neulich, dass sein Vater ihm als Reaktion auf die frohe Botschaft („ich bin schwul“) wortwörtlich gesagt hat: „Du weißt schon, dass du dann in den Arsch gefickt wirst!?“ Da war er 19 und hatte noch nie mit jemandem geschlafen.
Schwulensex gilt als „ekelig“, Lesbensex wird verniedlicht, und Vorstellungen davon, wie inter* und trans* Personen Sex haben, enden häufig bei der vermeintlich zentralen Frage der Genitalien. Ich finde es wichtig, dem etwas entgegenzusetzen. Um queere Personen zu bestärken, eine Vielfalt an Praktiken aufzuzeigen, Bilder davon vielleicht auch ein Stück weit zu normalisieren. Ich glaube, ein offener, ehrlicher Umgang mit Sex – und dazu gehört für mich die filmische Auseinandersetzung sowie das öffentliche Zeigen der Filme – kann letztendlich zu mehr sexueller Selbstbestimmung führen.

[Bild aus: RIOT NOT DIET von Julia Fuhr Mann, zu sehen am 6. Juli im atelier automatique in Bochum]

Johanna: Wie findet ihr eure Filme?

Merle: Dieses Jahr wurden gut ein Drittel der Filme in unserem Programm eingereicht, das heißt, Regisseur*innen, Produzent*innen oder andere Menschen, die an der sogenannten Distribution des Films beteiligt sind, schicken uns die Filme zu. Das dauert dann immer ganz schön lange, bis wir alles gesichtet haben, macht aber natürlich auch sehr viel Spaß. Darüber hinaus gehen wir selbst auf die Suche nach Filmen: Wir lesen viel, unterhalten uns mit Freund*innen und Kolleg*innen über queere Filme, besuchen Museen, gehen viel ins Kino und natürlich auf andere Filmfestivals. Wenn wir nicht vor Ort sein können, informieren wir uns online über das Programm. Mich haben zuletzt Queer Lisboa in Portugal und das fringe! Queer Film Fest in Großbritannien inspiriert.

Johanna: (Wie) Ist Filme schauen mit politischem Aktivismus verbunden?

Merle: Ich glaube, dass Film als eine Form von Kunst eine grundsätzliche Daseinsberechtigung hat. Das steht für sich und muss nicht zweckgebunden sein. Und, das habe ich ja oben schon gesagt, die Form selbst ist politisch. Gute Filme werfen Fragen auf, lassen keine einseitigen Betrachtungen zu, manipulieren nicht. Um mal ein recht bekanntes Beispiel zu nennen, wie Erinnerung, Erzählung, Biographie anders funktionieren können: Todd Haynes hat in „I’m Not There“ das Leben von Bob Dylan – ja, eben nicht: „nacherzählt“, denn das ist nicht möglich. Nicht, weil es Bob Dylan ist, sondern weil das Leben eines Menschen nicht narrativ-linear verläuft. Also spielen sechs Schauspieler*innen ihren jeweils ganz eigenen Bob Dylan, es ist unklar, was Fakt und was Fiktion ist. Das ist für mich ein queerer Film – und das nicht, weil eine der sechs Schauspieler*innen Cate Blanchett ist, also eine Frau einen Mann spielt, das wird immer gerne besonders hervorgehoben.

Außerdem bin ich davon überzeugt, dass Film sich fantastisch eignet, um gesellschaftliche Fragen zu verhandeln, das geschieht ja oft über das Erzählen von Geschichten. Es ist eine Möglichkeit, seinen Blick zu erweitern, andere Perspektiven einzunehmen, Perspektiven auch von Menschen, mit denen wir sonst in unserem Leben vielleicht nicht in Berührung kämen. So kann es sensibilisieren – für das Leben von anderen, für gesellschaftliche Machtverhältnisse. Und das ist immer auch politisch.

 


[Bilder: XPOSED Queere Kurzfilmnacht im Dezember 2017 im atelier automatique in Bochum]

Johanna: Zum Abschluss: Hast du einen momentanen queeren Lieblings(kurz)film? Wenn ja, wo können Menschen sich ihn ansehen?

Merle: Ha, das ist eine schwierige Frage, ich mag sehr vieles! Der Kurzfilm JUCK von Olivia Kastebring, Julia Gumpert und Ulrika Bandeira begeistert mich immer wieder. Der lief auch schon auf sehr vielen Festivals in Deutschland, zum Beispiel bei der Berlinale, dem Internationalen Frauenfilmfestival in Dortmund und Köln, der Berlin Feminist Film Week, und bei XPOSED. Ein feministisches Manifest, das Performance-Kunst in die U-Bahnen und auf die Straßen bringt, mit viel Humor und zugleich auch sehr viel Ernst. Und darüber hinaus begeistert mich WHO WILL FUCK DADDY von Lasse Långström total, der lief dieses Jahr auch bei uns. Er steht für mich exemplarisch für das, was Queer Cinema sein kann: visionär, experimentell, total queer und verrückt, alle Vorstellungen von Geschlechtsidentitäten und sexuellem Begehren werden durcheinander geworfen, und das mit sehr viel Poesie… Wenn’s klappt, zeigen wir den Film übrigens auch im Oktober im atelier automatique in Bochum, und Lasse persönlich kommt vorbei.

Danke für deine Antworten! Am Freitag den 06.07.2018 könnt ihr eine Filmauswahl von Merle in Bochum betrachten.

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